Jenseits von Feuerland: Roman
noch heiser, aber etwas kräftiger. Sie lebte. Genauso wie sie selbst lebte. Weil der Vater es ihr befohlen hatte.
Emilia streckte die Hand aus und wollte ihr die Kleine abnehmen.
Rita gab sie nicht her. Aurelia war nicht nur ihre Tochter, sondern das Kindeskind ihres Vaters und ihrer Großmutter.
»Nein«, sagte sie erstickt, ihre Zunge war geschwollen, jedes Wort tat ihr in der Kehle weh. »Nein, ich halte sie selbst.«
Wortlos brachte Ana sie zu Ernesta Villans Bordell. Als Emilia erkannte, wohin ihre Schritte führten, wäre sie am liebsten stehen geblieben und hätte eine andere Richtung eingeschlagen. Allerdings fiel ihr kein anderer Ort ein, wo sie nun mitten in der Nacht Unterschlupf finden konnten.
Eben noch hatte die Erleichterung überwogen, weil sie alle überlebt hatten. Nun fühlte sie tiefe Trostlosigkeit in sich aufsteigen.
Verloren. Wieder einmal hatte sie alles verloren.
Obwohl es Nacht war, schlief Ernesta Villan nicht, sondern empfing sie mit einem bodenlangen, glänzenden Kleid und einem Cape aus Nerz. Als Emilia in ihrem kostbar geschmückten Salon auf sie traf, hatte sie das Gefühl, ihr Leben würde sich im Kreis drehen und immer wieder an den Ausgangspunkt zurückkehren – ohne Hoffnung, dass es je anders, je besser werden würde. Hier war sie schon einmal mitten in der Nacht gestanden, damals, als Esteban nach Punta Arenas zurückgekehrt und sie aus der Herberge der Mutter geworfen hatte.
Ernesta war wie immer stark geschminkt und parfümiert. Wann schlief sie? Oder schlief sie womöglich mitsamt der kostbaren Kleidung, der Schminke und dem Parfüm?
Nun, verschlafen oder müde wirkte sie nicht. Ihr Blick war stechend und kalt wie immer. Emilia hob kraftlos die Hände, doch ihr fiel nichts zu sagen ein. Ana indes ging unruhig im Zimmer auf und ab – so sie denn zwischen den vielen Möbelstücken überhaupt Platz für ihre Schritte fand.
»Es waren Esteban und Jerónimo!«, schimpfte sie. »Ich bin mir ganz sicher! Sie haben das Haus angezündet und wohl gehofft, dass wir alle verbrennen.«
Emilia nickte schweigend. Es war auch ihr erster Verdacht gewesen, und je länger sie darüber nachdachte, desto überzeugter war sie, damit richtig zu liegen. Aber Ärger und Wut auf diese beiden Schufte blieben aus. Nur Leere und Kälte breitete sich in ihr aus.
Wieder hatten sie alles verloren. Wieder standen sie vor dem Nichts …
»Und selbst wenn es so gewesen ist?«, schaltete sich Ernesta ein. »Ihr könnt es ja doch nicht beweisen!«
»Er wird dafür büßen!«, rief Ana erbost.
Emilia warf einen Blick auf Rita, die ihr Kind weiterhin in den Armen wiegte. Die kleine Aurelia machte glucksende Geräusche; Rita hatte die Lippen fest aufeinandergepresst.
Bei ihrem Anblick wurde Emilia noch mutloser. Wie sollte sie das Kind durch die nächsten Jahre, ja nur durch die nächsten Wochen bringen?
»Sie sollen büßen!«, rief Ana wieder und hieb ihre Ferse auf den Boden – ein Laut, der von einem purpurfarbenen Teppich gedämpft wurde.
»Ach was«, murmelte Emilia und war über die eigene Stimme entsetzt. Kraftlos klang sie, wie die einer Greisin, die jeden Lebensmut verloren hat. »Ich habe diesen ständigen Krieg so satt!«
»Willst du denn lieber …«, setzte Ana an, doch da hob Ernesta die Hand und fiel ihr barsch ins Wort: »Es ist mir gleich, wer das Haus angezündet hat. Was zählt, ist, dass es mir gehört. Wie wollt ihr mir das Geld zurückzahlen, das ihr mir schuldet?«
Emilia hob langsam den Blick und hielt nur mühsam den stechend grauen Augen stand. Sie hatte geahnt, dass Ernesta das fragen würde, aber insgeheim doch darauf gehofft, dass die berechnende Frau etwas mehr Gnade zeigen würde: »Es ist doch nicht unsere Schuld!«, stammelte sie.
»Das behauptest du!«, rief Ernesta. »Doch wer sagt mir, dass ihr nicht einfach nur unachtsam ward und in der Küche etwas brennen habt lassen?«
»Aber Jerónimo und Esteban …«, setzte Ana an.
Ernesta schüttelte den Kopf. »Ich will nichts davon hören. Ich will lediglich wissen, wie ihr meinen Kredit zurückzahlen wollt.«
Emilia rang nach Worten, aber es fielen ihr keine ein. »Das Geld«, gab sie schließlich zu, »das ganze Geld ist mit der Herberge verbrannt.«
Mehrmals hatte sie in den letzten Jahren überlegt, ihre Ersparnisse zu einer der Banken zu bringen, aber wegen der vielen Überfälle, von denen aufgeregt erzählt wurde, war ihr das zu unsicher erschienen, und obendrein hatte sie sich stets am
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