Jenseits von Feuerland: Roman
dagegen an.
»Das darf nicht geschehen«, presste sie schließlich hervor und fügte nach einer Pause hinzu: »Ihr müsst Punta Arenas verlassen.«
Emilia lachte bitter auf. Der Ton fuhr Agustina durch Mark und Bein. »Und wohin sollen wir gehen?«, rief sie. »Wir sind zwei Frauen ohne Geld, aber mit einem Säugling.«
Wieder atmete Agustina tief durch. »Geht es … geht es den beiden auch gut nach dem Brand?«
»Noch, ja«, erklärte Emilia. »Aber ich weiß nicht, wie wir uns durchbringen sollen.«
Agustina konnte wieder freier atmen, aber ihre Hände zitterten, als sie in ihrer Ledertasche kramte, schließlich eine Schriftrolle hervorzog und sie vor Emilias Gesicht hielt. »Damit«, sagte sie leise, »damit werdet ihr euch durchbringen.«
Emilia starrte verwirrt auf die Rolle, doch als Agustina sie ihr überreichen wollte, hob sie abwehrend die Hand.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Das ist die Urkunde, die beglaubigt, dass ich dreihundert Hektar Land gut drei Stunden nordöstlich von Punta Arenas besitze. Und die Estancia, die sich darauf befindet. Und etwa dreihundert Schafe.« Ihre Stimme zitterte nun so wie ihre Hände. Sie hoffte, dass Emilia es nicht hörte – nicht nur ihre Aufregung, sondern auch den Zweifel, das schlechte Gewissen, weil alles, was sie sagte, ein Verrat war. Ein Verrat an Esteban, der trotz allem ihr Sohn war.
»Mein Vater ist gestorben«, fuhr sie hastig fort. »Ich wusste gar nicht, dass er noch lebt. Nachdem er mich von der Farm verjagt hatte, habe ich nie wieder etwas von ihm gehört. Offenbar war er sehr lange krank. Wenn ich es gewusst hätte, ich hätte ihm so gerne geholfen, aber wahrscheinlich hätte er mich gar nicht erst empfangen.«
Weil er mich hasste, fügte sie im Stillen hinzu. So wie mein Sohn mich hasst. So wie du, Emilia, mich vielleicht hasst.
Doch Emilia wirkte plötzlich nicht mehr grimmig. Der trotzige Zug schwand von ihrem Gesicht, sie wirkte unendlich erschöpft.
»Ich bin zu müde für Familiengeschichten«, murmelte sie.
»Diese spielen auch keine Rolle mehr«, sagte Agustina. »Es zählt nicht mehr, dass er mich verstoßen hat, dass er nie wieder etwas mit mir zu tun haben wollte. Ich war sein einziges Kind – und so bin ich vor dem Gesetz die rechtmäßige Erbin des Landes, der Estancia und der Schafe. Eigentlich wollte ich Esteban diesen ganzen Besitz übergeben. Aber … aber …«
Verwunderung breitete sich in Emilias Gesicht aus. »Und stattdessen trägst du ihn mir an? Mir und Rita?«
Agustina seufzte. »Esteban würde das Land ja doch nur verkommen lassen«, sagte sie mit weiterhin zittriger Stimme. »Er würde sich nicht darüber freuen. ›Was soll ich in der Pampa?‹, würde er mich erbost fragen. Und ich … ich bin viel zu alt und zu schwach, um die Estancia selbst zu übernehmen.« Sie räusperte sich trocken. »Du und Rita hingegen – ihr könnt etwas daraus machen. Ihr habt den Willen, den Mut und die Stärke dazu.«
Das schlechte Gewissen schwand, das Entsetzen über den eigenen Verrat verflüchtigte sich, nur mehr Trauer blieb – weil sie nichts davon je selbst besessen hatte und, was noch schlimmer war, weil sie es nie für sich gefordert hatte, nie wirklich zugepackt, nie dem Leben getrotzt.
»Und was willst du dafür?«, fragte Emilia und starrte nachdenklich auf die Rolle.
Agustina ließ ihren Blick wieder sinken.
»Ich will, dass es euch gutgeht … euch beiden und dem Kind. Ich will, dass Esteban euch nie wieder etwas antun kann.«
Ihre Kehle wurde eng vor unterdrückten Tränen. Sie wartete Emilias Entscheidung nicht ab, sondern legte die Urkunde auf eine der edlen Mahagonikommoden von Ernesta Villan ab und hastete nach draußen.
Immer kleiner wurde der Hafen von Punta Arenas, am Ende war nur mehr ein kleiner schwarzer Punkt zu sehen. Die Luft war klar, der Wind kalt, Eisschollen trieben auf dem Wasser. Einst hatte Pedro ihnen erzählt, dass nach Punta Arenas nur Feuerland kam, hinter Feuerland das Ende der Welt, und dass es dort nur Eis, Kälte und Tod gab, und obwohl sie eine andere Route nahmen, hatte Emilia das Gefühl, geradewegs in dieses unbelebte Niemandsland zu segeln.
Rita trat neben sie: »Bist du froh, hier wegzukommen?«, fragte sie leise und fügte rasch hinzu: »Ich schon.«
»Ich auch«, sagte Emilia, obwohl sie wusste, dass das nicht stimmte. Sie war froh, Esteban und Jerónimo künftig aus dem Weg gehen zu können, und erleichtert, nicht als Hure in Ernestas Bordell arbeiten zu
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