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Jenseits von Feuerland: Roman

Jenseits von Feuerland: Roman

Titel: Jenseits von Feuerland: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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zu entgehen, doch als sie die Stimme erkannte, konnte sie nichts anderes tun, als die Hände sinken zu lassen und ihr fassungslos zu lauschen.
    Ihr Vater … ihr Vater sprach zu ihr. Sprach zu ihr wie damals, als sie sich über seinen sterbenden Leib gebeugt hatte und er ihr befohlen hatte: »Du musst weiterleben!«
    Danach hatte er ihren Mapuche-Namen gesagt, und obwohl sie sich an diesen nicht erinnern konnte – seinem Befehl konnte sie sich nicht widersetzen.
    Du musst weiterleben!
    Weiterhin blind öffnete sie die Tür zum Zimmer, in dem die Amme für gewöhnlich mit dem Kind schlief, und trat auf Zehenspitzen über die heiße Schwelle. Kaum merkte sie, wie sie die nächsten Schritte zurücklegte, nur, dass sie plötzlich an der Wiege stand. Das Kind gab nicht mehr von sich als ein paar heisere Laute.
    Kurz senkte sich wieder Starre über sie.
    Bald, dachte sie, bald …
    Bald würden sie im Rauch ohnmächtig werden und die Flammen sie verschlingen. Bald würde nichts mehr von ihnen beiden bleiben als Asche, würden nicht nur ihrer beider Leben ausgelöscht sein, sondern der Schmerz, die Qualen, die Todesangst, die Enttäuschung … und auch die Liebe zu Jerónimo, die von allem am unerträglichsten war. Wie ein dreckiges Kleid klebte sie auf ihrem Körper, das sie nicht ablegen konnte.
    Bald …
    Doch abermals ertönte der strenge Befehl ihres Vaters: Du musst weiterleben!
    Jener Befehl hatte sie einst durch die Wildnis zum Llanquihue-See geleitet. Jetzt brachte er sie dazu, die Arme auszustrecken, das Kind hochzuheben und diesen kleinen, weichen, warmen Körper an sich zu pressen. Danach war es nicht mehr die Stimme, die ihr Befehle erteilte, sondern dieses arme Würmchen selbst. Sie musste es halten, musste es tragen, musste es beschützen – vor dem Rauch, vor der Hitze, vor dem Feuer … Sie musste es auch vor der Rohheit der Welt beschützen, vor Estebans und Jerónimos Gewalttätigkeit, vor dem eigenen Hass und dem Ekel. Sie presste es an sich, spürte, wie die feinen Härchen ihr Kinn kitzelten, konnte nicht anders, als das Köpfchen zu küssen.
    »Es wird gut, es wird alles gut …«
    Dann sagte sie nichts mehr, dachte auch nichts, folgte nur blind ihren Instinkten. Hinaus aus diesem Raum … den Gang entlang …
    Die Treppe brannte lichterloh – dieser Weg war ihr verwehrt –, aber es gab noch das Fenster …
    Noch im Gehen zog sie ihren Umhang von den Schultern und wickelte das Kind ein. Dann riss sie ihr Kleid in Fetzen und band einen Strick daraus, öffnete das Fenster, schlang den Strick um das Bündel mit dem Kind. Vorsichtig ließ sie es zu Emilia herunter. Ana stand dicht neben ihr und nicht weit von ihr viele Schaulustige mit offenen Mündern und fassungslosen Blicken. Eben kamen Männer in die Straße gelaufen – nicht, um zu glotzen, sondern um das Feuer mit Eimern voller Wasser einzudämmen. Wahrscheinlich waren sie Mitglieder jenes Feuerwehrvereins, den einst ein Deutscher in Punta Arenas gegründet hatte. Emilia hatte früher so oft gespottet, dass die Deutschen immer Vereine gründen müssten …
    Langsam ließ Rita den Strick durch ihre Hände gleiten – dann war das Kind sicher in Emilias Armen angekommen. Emilia schien ihr etwas zuzurufen, aber das Knistern und Krachen hinter ihr übertönte jeden Laut. Die Hitze wurde unerträglich. Rita konnte ihre Glieder kaum spüren, als sie aus dem Fenster stieg, sich am Rahmen festhielt, sich erst langsam hinunterließ und dann sprang. Als sie aufprallte, biss ein spitzer Schmerz in ihre Beine, aber er verebbte sofort, und sie konnte sich zur Seite rollen – keinen Augenblick zu früh, denn eben brach hinter ihr eine der Hauswände ein. Sie konnte nichts mehr sehen, sondern war in einer Wolke aus Rauch und Hitze und Funken und Staub gefangen, spürte nur die Arme, die sie packten und wegzogen. Im nächsten Augenblick beugte sich Emilia über sie. Sie öffnete den Mund, brachte jedoch keinen Laut hervor, stieß Emilias Hand beiseite und tastete nach dem Bündel mit dem Kind. Nein, es war nicht mehr das Kind. Es war Aurelia. Es war ihre Tochter.
    Sie wusste nicht, wie lange sie – ihre Tochter in den Armen wiegend – dort auf der Straße hockte. Sie drehte sich kein einziges Mal zu dem brennenden Haus um, presste nur das Bündel an sich.
    Irgendwann hörte sie wieder Stimmen, hörte Emilia, die da verzweifelt rief: »Mein Gott! Ich dachte, du würdest es nicht schaffen!«, hörte nun auch wieder Aurelia weinen, immer

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