Jenseits von Feuerland: Roman
sie es oft und brachte es den Tieren, um sie zwischendurch mit Leckerbissen zu verwöhnen. Erst gestern hatte sie gemeinsam mit Balthasar saftige Kräuter von einem feuchten Talboden nicht weit von der Estancia entfernt gepflückt, und wahrscheinlich hofften die Schafe, auch jetzt davon zu bekommen – vom Poa, Festuca oder Stipa oder vom Cebadillagras.
»Heute habe ich nichts!«, rief sie ihnen bedauernd zu. »Aber morgen bringe ich euch wieder etwas Feines!«
Emilia würde sie wahrscheinlich dafür maßregeln, denn ihrer Meinung nach sollten sich die Schafe gar nicht erst daran gewöhnen. Früher hatte sie sich auch oft darüber erregt, dass Aurelia einigen der Tiere Namen gegeben hatte. Es wären schließlich nur Tiere, keine Menschen!
So oder so – die Schafe hörten auf ihre Namen, und Aurelia rief sie nun laut, um die Mutterschafe samt ihrer süßen Lämmchen herbeizulocken. Hingerissen beobachtete sie die winzigen Tiere, die erst wenige Wochen alt waren, und konnte sich nur mühsam wieder von dem Anblick losreißen. Rasch streichelte sie zweien über den Kopf, ehe sie sich von ihnen löste und weiterging, um Blumen zu pflücken. Ein Stück lang folgten ihr die Schafe, dann blieben sie plötzlich stehen – nicht weil die Koppel zu Ende war, sondern weil sie irgendetwas gehört hatten.
Aurelia wusste, dass Schafe schreckhafte Tiere waren, und kicherte in sich hinein, als manche argwöhnisch den Kopf hoben, andere große Sprünge vollführten, bei denen sie teilweise gleichzeitig mit allen vier Beinen wieder aufsetzten. Die Jungtiere flüchteten ins Herdenzentrum.
»Was seid ihr für Feiglinge!«, lachte Aurelia.
Sie selbst hatte nichts Ungewöhnliches gehört oder gesehen, sondern ging unbeirrt weiter. Erst als sie ein weiteres Stück des Weges zurückgelegt hatte, erblickte sie in der Ferne einen Mann. Er stand so reglos, dass sie zunächst dachte, er wäre ein Zaunpfosten. Doch als er umgekehrt auch sie gesehen hatte, kam er langsam auf sie zu. Aurelia verharrte unsicher und überlegte, ob sie besser umkehren sollte, doch dann kam sie zum Schluss, dass der Fremde wohl nur einer der vielen Männer war, die Pedro schickte und die immer mal wieder auf der Estancia aushalfen. Früher hatte sie schreckliche Angst vor diesen Männern gehabt; später war sie mutig genug gewesen, um auf sie zuzugehen und mit ihnen zu sprechen. Die Männer waren entweder wortkarg oder konnten kein Spanisch, so dass sie sie irgendwann ignoriert hatte – Furcht hatte sie in jedem Fall keine mehr vor ihnen. Und dieser Mann nun lächelte sogar. Aurelia wollte es schon erwidern, zögerte dann aber doch. Das Lächeln war das Einzige, was an dem Mann freundlich wirkte – ansonsten machte er einen ziemlich wilden Eindruck. Sein Haar reichte tief über die Augen, seine Haut wirkte irgendwie kränklich blass, und über die Wange verlief eine Narbe.
Noch vor einigen Jahren wäre sie spätestens jetzt schreiend fortgerannt, aber beim Anblick der Narbe musste sie an Balthasar denken, dessen Gesicht voller Brandwunden war und der stets behauptete, er sei der hässlichste Mann Hamburgs. Anfangs hatte sie ihm geglaubt, doch mittlerweile war sie so oft auf seinem Schoß gesessen und hatte die Scheu vor seinen einstigen Verletzungen verloren. Auch dem narbigen Fremden blickte sie darum offen ins Gesicht.
»Suchen Sie meine Mutter?«, fragte sie. »Oder Tante Emilia?«
»Du bist Ritas Tochter, nicht wahr?«
Er sprach merkwürdig, so, als würde seine Zunge bei jedem Wort gegen seine Zähne stoßen. Immerhin war er kein Schotte, sondern Spanier.
»Ich bin Aurelia«, bestätigte sie zögerlich.
Eine Weile stand er steif vor ihr, dann kniete er sich zu ihr, und sein Lächeln verstärkte sich.
»Nun, Aurelia – was machst du denn ganz allein hier draußen?«
Seine Stimme klang unheimlich, weil raunend, aber das fortwährende Lächeln beschwichtigte sie.
»Meine Mama heiratet bald. Und ich pflücke Blumen.«
»Aber hier wachsen doch keine Blumen.«
»Doch«, bestand sie, »hinten beim Schafmist.«
»Tatsächlich? Zeigst du sie mir?«
Aurelia zog die Stirn in Falten. Die Männer, die auf der Estancia arbeiteten, waren eigentlich nicht an Blumen interessiert. Allerdings würde auch Balthasar die Blumen sehen wollen und sie später sogar malen. Also nickte sie dem Fremden zu und wies ihm den Weg. Die Schafe hatten sich wieder beruhigt, sich aus dem Rudel gelöst, und die Lämmer sprangen munter über die Weide. Aurelia lächelte,
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