Jenseits von Feuerland: Roman
als sie sie beobachtete, und sie lächelte noch mehr, als sie den Misthaufen erreichten und sie schon von weitem die Blumen sah – rote, blaue und gelbe.
»Hier!«, sie deutete stolz darauf. »Hier sind die Blumen.«
Der Mann sagte nichts, starrte sie nur lächelnd an. Sie wusste nichts mehr zu sagen, hob nun das Kleid, damit es nicht im Dreck hängen würde, und bestieg geschickt den Misthaufen. Wahrscheinlich würden später ihre Schuhe stinken, aber der Schafmist war längst getrocknet, so dass sie nicht darin versank. Eine Weile pflückte sie vor sich hin pfeifend einen Strauß Blumen. Sie war nicht sicher, ob der Mann stehen geblieben war, hörte ihn auf jeden Fall nichts mehr sagen, sondern nur das Stöhnen des Steppenwinds.
Als sie aufblickte, war es nicht mehr nur einer, sondern auch einer zweiter Mann, der plötzlich vor ihr stand. Sie zuckte zusammen, ehe sie den Rücken straffte und auch dem zweiten offen ins Gesicht blickte. Ohne Zweifel war er schöner als der andere – er hatte keine Narben, stattdessen graublaue Augen und einen spitzen Bart am Kinn. Doch er lächelte nicht.
Unwillkürlich umkrampfte Aurelia den Blumenstrauß. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Schafe wieder den Kopf hoben und die Nüstern blähten. Unbehagen stieg in ihr hoch. Es war nicht wirklich kalt, und dennoch breitete sich eine Gänsehaut über ihre Arme aus. Das Haus … es war so weit weg … und sie durfte doch eigentlich nicht so weit fortgehen …
Der Wind pfiff lauter.
»Ich muss nun wieder zurück«, erklärte sie und hoffte, dass man nicht hören würde, wie ihre Stimme zitterte.
Der Narbige lächelte weiterhin.
»Das ist ja alles viel leichter, als ich dachte«, sagte er.
Aurelia wusste nicht, was er meinte – noch nicht. Doch dann, sie war gerade vom Misthaufen gestiegen, sah sie etwas Dunkles in seiner Hand. Ehe sie erkennen konnte, was genau es war, wurde es bereits über ihren Kopf gestülpt. Entsetzt schrie sie auf. Zuerst hüllte das Dunkle nur ihren Kopf ein, dann den ganzen Leib, und plötzlich spürte sie den Griff von Männerhänden, hart, schmerzhaft, roh. Nicht länger war ihr kalt, Blut schoss ins Gesicht. Sie schrie verzweifelt, als der Mann sie umklammerte, sie schließlich hochhob und über seine Schultern warf. Doch als er den ersten Schritt machte, blieb ihr die Luft weg, und sie konnte nicht mehr schreien.
Nicht!, flehte sie innerlich. Nicht!
Sie spürte, dass sie fortgetragen wurde, hörte, wie nun jemand lachte. Voller Angst begann sie, mit den Händen um sich zu boxen und mit den Beinen zu strampeln. Doch sie erreichte nur, dass der Griff sich noch fester um sie legte. Sie hörte ein Fluchen, dann bekam sie einen Schlag auf den Kopf, und augenblicklich wurde es finster um sie.
Als sie im Hamburger Hafen einliefen, erwartete sie Nieselregen. Die Stadt war von einem dicken Nebelkleid umhüllt, so dass sich so gut wie nichts von den großen Gebäuden erkennen ließ. Fröstelnd standen sie an der Reling, und Arthur konnte Emilia die Enttäuschung über das schlechte Wetter ansehen. So begierig war sie darauf gewesen, die Stadt kennenzulernen – doch nun versteckte sie sich!
Arthur selbst hätte im Laufe der Reise am liebsten nie über seine Heimatstadt und das, was dort auf ihn wartete, nachgedacht, aber sie hatte ihn immerzu mit Fragen bedrängt, so dass er schließlich den Widerwillen bezwungen und die Freie und Hansestadt Hamburg in leuchtenden Farben ausgemalt hatte – eine Stadt mit riesigen Häusern und ebenso breiten Straßen, weil man nach dem großen Brand 1842 die vielen kleinen Häuser nicht wieder aufgebaut hatte, sondern stattdessen ein gerades, rechtwinkeliges Straßennetz aus Asphalt und gleichförmige Putzbauten entstanden war. Ziemlich schmucklos wären diese, hatte er Emilia beschrieben, weil sie doch keinen Schutzwehrstein, kein Kettenschirmgehege, keinen Vorbau und keine Kellerhöhlung mehr besäßen, und dennoch ein prächtiger Anblick.
Wie Punta Arenas war Hamburg eine Stadt, die stetig wuchs – wenn auch nicht ganz so schnell. Längst war Hamburg im Westen über die Vorstadt Sanct Pauli bis an die Grenze der preußischen Stadt Altona herangewachsen und über Sanct Georg an die Grenze von Wandsbek. Insgeheim bezweifelte er, dass sich Emilia tatsächlich dafür interessierte, aber sie lauschte angeregt und stellte immer wieder Fragen.
Ja, ein neues Rathaus würde eben errichtet, und ja, er wäre selbst neugierig, ob der spitze Turm, der bei seinem
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