Jenseits von Feuerland: Roman
Narbige dagegen hatte ihr schon manchen Befehl erteilt. Er war es auch gewesen, der sie aus dem Strohsack befreit hatte, in dem sie in den ersten Stunden gefangen gewesen war. »Pass auf«, hatte er ihr eingebleut, »wenn du dich ruhig verhältst, passiert dir nichts. Aber wenn du schreist, um dich schlägst oder versuchst fortzulaufen, schlitze ich dir die Kehle auf.«
Seitdem hatte Aurelia kaum zu atmen gewagt. Die Angst lähmte sie derart, dass sie nach einiger Zeit das Gefühl hatte, ihr Körper gehöre gar nicht mehr zu ihr. Doch wenn sie auch jede auffällige Bewegung mied, so beobachtete sie die beiden doch ganz genau und prägte sich die Landschaft ein.
Sie waren lange durch die Einöde der Steppe geritten. Anfangs war ihr das Land vertraut gewesen, später erreichten sie Gebiete, die sie noch nie zuvor betreten hatte. In der Ferne hatte sie die roten Dächer einer kleinen Kolonie von Rinder- und Schafzüchtern gesehen und sehnsuchtsvoll dorthin gestarrt. Doch ein drohender Blick des Narbigen hatte genügt, damit sie rasch wieder den Kopf senkte. Aus den Augenwinkeln hatte sie beobachtet, wie er zufrieden nickte.
»Alles viel einfacher, als ich dachte«, knurrte er.
Die erste Nacht ritten sie durch und legten erst am nächsten Morgen eine Pause ein. Aurelia knurrte der Magen, aber sie hätte die Männer nie um Essen angefleht. Schweigend würgten die beiden Dörrfleisch hinunter, das am Sattelriemen eines der Pferde befestigt gewesen war, und erst als er den eigenen Hunger gestillt hatte, gab der Narbige auch Aurelia ein Stück.
»Du bist ja richtig fürsorglich!«, spottete der Grauäugige. Seine Stimme klang eigentlich weich und samtig, dennoch lag ein Unterton darin, der Aurelia genauso schaudern ließ wie sein heimtückisches Lächeln.
»Soll sie verhungern?«, gab der andere barsch zurück.
Das Fleisch war so hart, dass sie es kaum beißen konnte. Wahrscheinlich war es Guanakofleisch. Wenn man es richtig zubereitete, so erinnerte sie sich plötzlich an Emilias Worte, wäre es so zart wie Lammfleisch. Aber man musste es sehr heiß braten, und das hatten die Männer wohl nicht getan. Aurelia unterdrückte Tränen, als sie nicht nur an Emilia, sondern auch an ihre Mutter dachte und wie die beiden Frauen einst Fleisch in Streifen geschnitten und auf dem Felsen hatten trocknen lassen – die Ration für eine Reise nach Punta Arenas.
Bald ging es weiter. Sie kamen an keiner Siedlung mehr vorbei und stießen auch auf keine fahrenden Händler. Ihre einzigen Begleiter waren Kondore, die über ihren Köpfen kreisten. Aurelia wusste, dass die Vögel Aasfresser waren, dass sie sich nicht nur über tote Tiere hermachten, sondern auch über tote Menschen, und fragte sich, ob das das Schicksal war, das ihr blühte. Würden die Männer sie töten? Ihr die Kehle auch dann aufschlitzen, wenn sie sich ruhig verhielt?
Sie hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, dass der Narbige sofort dazu bereit gewesen wäre, diese Drohung umzusetzen. Und ihr waren auch nicht die Abhäutemesser entgangen, die die beiden an ihrem Stiefelschaft trugen.
In der zweiten Nacht rasteten sie in einem Zelt aus Seehundfell, das so verdorben wie alte, schweißige Schuhe stank. Den Worten nach, die sie wechselten, war es gestohlen. Aurelia musste an Maril denken, der ihr oft von seinem Zelt erzählt hatte. Kauwi hieß dieses, und in der Mitte seines Dachs befand sich ein Loch, wo der Rauch des Feuers entweichen konnte. Sie hatte so oft darum gebettelt, auch einmal in einem solchen Zelt schlafen zu dürfen, aber ihre Mutter hatte es ihr stets verboten.
Nun, jetzt schlief sie einem Zelt, aber es war die schlimmste Nacht ihres Lebens. Immer wieder schreckte sie aus dem Schlaf hoch. Sie hatte schreckliche Angst, von dunklen Träumen gepeinigt zu werden und zu schreien, denn dann würde ihr der Narbige die Kehle durchschneiden.
Am nächsten Morgen war sie zu erschöpft, um die beiden zu beobachten und die Landschaft wahrzunehmen. Sie ritt auf dem Pferd des Narbigen, und obwohl sie sich bis jetzt immer bemüht hatte, möglichst viel Abstand zu seinem Körper zu halten, nickte sie nun immer wieder ein und rutschte ganz dicht an ihn heran. Sobald sie die Augen aufschlug, war es ihr widerwärtig, aber sie war zu erschöpft, um dagegen anzukämpfen. Wieder spottete der Mann mit den kalten Augen, was für ein fürsorglicher Vater Esteban sei. Aurelia verstand nicht recht, was er damit sagen wollte, prägte sich jedoch den Namen Esteban
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