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Jenseits von Feuerland: Roman

Jenseits von Feuerland: Roman

Titel: Jenseits von Feuerland: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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geblieben, der immer an derselben Stelle patzte. Paolo hieß eigentlich Paul, aber er gab sich den italienischen Namen, um exotischer zu wirken. Emilia fand, dass er sich das hätte sparen können, denn ob Paolo oder Paul – niemand würde ihm ernsthaft abnehmen, dass auch nur ein Tropfen südländisches Blut in ihm floss: Er war ein kleines, dünnes Männchen, das seine Arbeit im Varieté mit unglaublicher Ernsthaftigkeit betrieb und seine strähnigen Haare mit einer Perücke bedeckte, die ebenso schief saß wie die Töne des Klaviers.
    Emilia konnte gar nicht anders, als jedes Mal spöttisch zu grinsen, wenn sie ihn sah, doch eigentlich hatte sie ihn recht gern. Paolo war immer sehr freundlich zu ihr – vor allem, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie aus Chile stammte. Dort lebten schließlich Spanier, und Spanier waren in seinen Augen so etwas Ähnliches wie Italiener – könnte sie ihm darum vielleicht helfen, sein Auftreten zu verbessern, so dass man in ihm den Paolo sah?
    Emilia wusste nicht, was sie ihm hätte raten können. Das Problem war nicht nur, dass Paolo tatsächlich glaubte, er könnte sich als waschechter Italiener ausgeben – nein, obendrein hielt er sich auch für einen begnadeten Couplet-Sänger. Stolz trug er Samtjackett und Atlaskniehosen und war der Ansicht, passende Kleidung und regelmäßiges Klaviergeklimper würden genügen, um aus seiner krächzenden Stimme eine wunderschöne zu machen. Tatsächlich wurde er bei seinen Auftritten nicht ausgebuht – weder wenn er im Liederspiel Ein Wiener in Berlin auf der Bühne erschien noch bei den Nachmittagsvorstellungen vom Struwwelpeter oder dem Flotten Burschen  –, doch während er glaubte, das Publikum preise seine Stimme, war das Gegenteil der Fall. Er galt als der miserabelste Sänger von Sanct Pauli und bekam nur darum Applaus, weil sich jeder über ihn totlachte.
    Nun, solange er das Publikum nicht fernhielt, sondern anlockte, war es Hella von Mummhausen egal, wie er sang. Hella war die Besitzerin des Varietés und ihr Nachname genauso erlogen wie der von Paolo. Sie hatte nicht deren stechenden Blick, aber ein ähnlich stark geschminktes Gesicht wie Ernesta Villan, war weniger berechnend als die Bordellbesitzerin von Punta Arenas, aber ungemein eitel. In gleicher Weise wie Paolo alles dafür gegeben hätte, um als Italiener zu gelten, wollte sie unbedingt jung sein.
    Anfangs war Emilia ihr gegenüber sehr misstrauisch gewesen und hatte den Verdacht gehegt, dass das Varieté in Wahrheit ein Freudenhaus war. Gewundert hätte es sie nicht: Sanct Pauli hieß im Volksmund nicht grundlos Sanct Liederlich, und wenn sich hier auch leicht Arbeit finden ließ – die eines Freudenmädchens wollte sie gewiss nicht tun. Doch Hella hatte sie bloß als Köchin angestellt, und während sie diese Arbeiten verrichtete, fand sie heraus, dass es in Sanct Pauli dreierlei Arten von Etablissements gab und nicht alle verrucht waren. Da gab es die wirklich großen »Kunstgesellschaften« wie das Hotel de Nelson in der Silbersackstraße, das Hammonia-Theater und das Elysium-Theater am Spielbudenplatz, von denen Hella halb neidisch, halb sehnsüchtig sprach. Da gab es die billigeren, ärmlicheren Varietés wie ihres – mit nur einem Saal, ohne Seitenränge, aber dafür mit Galerie –, wobei man unter der besser nicht Platz nahm, weil die tabakkauenden Seeleute von oben hinabspuckten. Und schließlich gab es – vor allem auf der Davidstraße – die Bordelle, wo die Frauen den Männern erst auf dem Tanzboden nahe rückten und sie schließlich aufs Extrazimmer lockten. »Stadt London«, »Goldene Engel«, »Adler« und »Elephant« hießen diese Spelunken, in denen es nicht nur galt, dem Freier mit prallen Brüsten die Vorzüge der käuflichen Liebe anzupreisen, sondern ihn obendrein dazu zu bewegen, möglichst viel Schnaps zu trinken – und ihn teuer zu bezahlen. Viele Mädchen dort nannten sich darum nicht Freudenmädchen, sondern Animierdamen, und behaupteten, ihr Geld nicht mit der käuflichen Liebe, sondern mit der »Spirituosenvertilgung« zu verdienen. Scham- und skrupellos waren sie so oder so.
    Eins hatten all diese Orte gemeinsam: Sie waren bunt, schrill und laut. Jede Geste fiel übertrieben aus, jedes Lachen klang kreischend, Betrunkene wurden weinselig oder gewalttätig, und man konnte keinen Schritt gehen oder stehen, ohne an den Leib eines anderen gepresst zu werden, dessen warme Haut zu fühlen und den oft stinkenden Atem.
    So

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