Jenseits von Feuerland: Roman
schwer es für Emilia manchmal war, in dieser Welt zurechtzukommen – wenigstens ließ sie sie das Grau des Hamburger Nieselregens vergessen. In den letzten Wochen hatte sich das Wetter zwar etwas gebessert, doch seit sie bei Hella von Mummhausen Arbeit gefunden hatte, stand Emilia fast pausenlos in der Küche, ohne aus dem Fenster zu blicken, und wenn sie an die Stadt dachte, hatte sie stets den verregneten, kalten Tag ihrer Ankunft vor Augen, als diese in Schwarz gekleidete Frau auf Arthur zugetreten war und verkündet hatte, dass er ihr Mann und sie, Emilia, wohl eine Hure wäre. Emilia war nicht sicher, was in diesem Moment mehr geschmerzt hatte – so genannt zu werden oder Arthurs falsches Spiel zu durchschauen. In jedem Fall war sie vor seinen Erklärungen geflohen. In ihren Ohren klangen sie allesamt wie Lügen. Eine Ehefrau zu verschweigen empfand sie nicht als eine Art Missgeschick, wie er es darzustellen versuchte, sondern als schlimmsten Verrat, für den es keine Rechtfertigung gab. Nachdem sie ihn einfach hatte stehen lassen, war sie ein paar Tage lang durch die Straßen geirrt; eine dunkle Zeit war das, an die sie nie wieder in ihrem Leben zurückdenken wollte, doch dann war ihre graue Welt plötzlich bunt geworden – nicht, weil Verbitterung, Kummer und Enttäuschung nachgelassen hätten, sondern weil sie eine Anstellung suchte und sie schließlich in Sanct Pauli fand.
Altbewährter Stolz war erwacht: Sie brauchte keinen Arthur, um sich in Deutschland durchzubringen. Sie konnte ihr eigenes Geld verdienen. Und außerdem – sie war nicht nur seinetwegen hierhergekommen, hatte den Traum von Deutschland schon gehegt, als sie ihn noch gar nicht gekannt hatte, nun würde sie ihn eben ohne ihn leben.
»Was brutzelst du da?«
Emilia zuckte zusammen, als Hella plötzlich über ihre Schultern blickte. Die schiefen Töne des Klaviers waren angeschwollen und hatten ihre Schritte übertönt.
»Ich dachte, ich lasse euch einmal kosten, was die Chilenen gerne essen – nämlich Empanadas«, erklärte Emilia. »Das sind Teigtaschen – gefüllt mit Fleisch, Zwiebeln und Kartoffeln und in heißem Fett gebacken.«
Hella schmatzte genießerisch. Emilia wusste mittlerweile, dass Hella nicht nur gerne viel redete, sondern auch gerne viel aß, und dass sie überdies Exotisches nicht scheute.
Sie trat von Emilia zurück und lehnte sich an den Herd – nicht nur stark geschminkt wie immer, sondern schamlos leicht bekleidet. Man sah ihr den guten Appetit an: Ihre Kleidung saß viel zu eng, überall quoll aufgedunsenes Fleisch hervor, und mehr als nur eine Naht drohte gleich zu platzen. Obwohl sie ständig den Bauch einzog, holte sie nun doch tief Atem und begann zu reden, wie sie immer redete, so schnell nämlich, dass zwischen keinem der Worte jemals eine Pause entstand. Meist hörte Emilia an dem Geschwätz vorbei. Es genügte, dann und wann zustimmend zu nicken und zu verbergen, wie gestört sie sich von den vielen Worten in Wahrheit fühlte, und wenn sie glaubte, dass ihr die Ohren gleich bluten würden, sagte sie sich, dass sie es noch schlimmer hätte treffen können und es durchaus seine Vorzüge hatte, bei Hella von Mummhausen zu arbeiten.
Eigentlich hatte Hella sie nicht als Köchin, sondern als Putzfrau angestellt, die nach jedem Auftritt das Theater sauber machen und die zerstörten Pappmachéfiguren des Bühnenbildes wieder reparieren sollte, aber nachdem sie zum ersten Mal eine Mahlzeit gezaubert hatte, war vom Putzen keine Rede mehr gewesen. Hella hätte am liebsten den ganzen Tag gegessen, also musste Emilia den ganzen Tag kochen, und meist gesellte sie sich zu ihr, um zu reden. Ganz am Anfang hatte sie Emilia noch Fragen gestellt – unter anderem, woher sie käme und was sie nach Hamburg triebe, aber ihr Interesse an ihrer Vergangenheit war rasch erlahmt. Als Emilia von Chile erzählte, hatte sie zwar wissend genickt, aber in ihren Augen hatte Verwirrung gestanden, so dass sich Emilia sicher war: Wenn Hella ihr auf dem Globus das Herkunftsland hätte zeigen müssen, so hätte sie auf die falsche Stelle getippt. So klug und gelehrt sie sich auch gab und so stolz sie davon erzählte, dass sie schon die ganze Welt gesehen hätte – zwischendurch verriet sie sich immer wieder mit mangelndem Wissen und gab damit ungewollt zu, dass sie nie über Hamburg, bestenfalls noch Altona, hinausgekommen war.
»Ach, mein Gott!«, stöhnte sie nun theatralisch. »Bruno, die Saufnase, hat heute beim Ansagen
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