Jenseits von Feuerland: Roman
ein.
»Sie könnte auch deine Tochter sein«, gab dieser zurück.
»Sie ist doch nur ein Indianerbalg«, antwortete der andere. »So etwas ist ganz sicher nicht meine Tochter. Wenn ich mir vorstelle, dass wir nun wochenlang mit diesem Balg zusammen sein müssen. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, sie gleich …«
Er brachte den Satz nicht zu Ende, aber Aurelia ahnte, was er hatte sagen wollen.
Sie gleich zu töten.
Obwohl Aurelia vorgab zu schlafen, hielt sie doch den Atem an.
»Was willst du denn?«, fuhr da dieser Esteban auf. »Sie hält still, flennt nicht, stört uns nicht. Sie wird mir helfen, dass ich alles kriege … die Schafe, die Estancia, das Geld.«
Die Augen des anderen wurden noch kälter. »Ich dachte, du hättest längst begriffen, wie mühselig es ist, Schafe zu hüten. Wir tun das alles, um sie zu quälen und uns zu rächen, vergiss das nicht!«
Aurelia hörte, wie Esteban seine Kiefer aufeinanderrieb. »Dir mag das genügen. Du bist ja auch reich. Aber für mich … für mich muss noch mehr dabei herausspringen.«
Aurelia war sich nicht sicher, aber sie hatte das Gefühl, dass das Gesicht des anderen sich nicht nur abschätzig, sondern verächtlich verzog. Doch er sagte nichts mehr.
Als sie weiterritten, war das Land nicht länger flach, sondern hügelig. Flüsse, die längst vertrocknet waren, hatten im weichen Stein Rinnen und Löcher hinterlassen. Am Abend schliefen sie nicht in einem Zelt, sondern in einer Höhle. Die beiden Männer machten Feuer, doch da der Rauch in der Höhle nicht abziehen konnte, musste Aurelia nach kurzer Zeit husten.
Erschrocken über diesen Laut – den ersten, den sie seit Tagen machte –, schlug sie sich die Hand vor den Mund. Der Grauäugige kicherte auf, der narbige Esteban richtete starr seinen Blick auf sie. Sie duckte sich und fürchtete schon, seinen Zorn erregt zu haben, doch sein Blick wirkte nicht verärgert, eher verwirrt.
Sie unterdrückte den Hustenreiz und suchte sich ein Plätzchen, wo der Rauch nicht ganz so dicht stand, es dennoch warm vom Feuer war.
Wieder tat sie so, als würde sie schlafen, aber stattdessen überlegte sie fieberhaft, was sie tun könnte, um zu fliehen. Es war ihr unmöglich, an ihre Mutter oder an Balthasar zu denken, ohne zu weinen, aber sie konnte Marils stolzes Gesicht heraufbeschwören und wie er ihr gezeigt hatte, mit einer Boleadora zu jagen – einer Wurfleine aus dem Darm eines Guanakos, die man rotieren lassen und mit der man kleine Steine schnell und hart auf sein Ziel schleudern konnte. Maril trug immer eine Boleadora und auch Bolas, wie die Steine hießen, mit sich, und er konnte damit mühelos Mäuse und Fischotter erlegen.
Aurelia war weit davon entfernt, so geschickt wie er zu sein – doch er hatte immer wieder mit ihr geübt, die Boleadora zu schleudern, und irgendwann konnte sie halbwegs die Richtung bestimmen, in die der Stein schießen sollte.
Sie blickte sich um. In der Höhle gab es viele kleine Steine, Wurfgeschosse hatte sie also genug. Aber sie brauchte eine Leine, am besten aus Leder – und die würde sie nicht beschaffen können, ohne den beiden Männern zu verraten, was sie plante. Aurelia seufzte. Und selbst wenn sie eine Boleadora hätte – würde es ihr jemals gelingen, nicht nur einen, sondern gleich beide Männer damit zu überwältigen? Nein, dachte sie hoffnungslos, nein, das war unmöglich!
Schließlich hielt sie nicht länger nach einer Wurfleine Ausschau, sondern ergab sich der Erschöpfung. Sie ließ sich zurücksinken und schloss die Augen. Wieder war die Angst groß, sie könnte im Traum schreien. Doch immerhin hatte sie die erste Nacht überstanden, ohne dass dieser Esteban ihr die Kehle durchschnitt – sie musste darauf hoffen, dass er ihr auch weiterhin nichts tun würde.
34. Kapitel
E milia lauschte den Klängen des Klaviers. Jeder Ton geriet ein wenig schräg, und sie hegte seit langem den Verdacht, dass das Instrument nicht richtig gestimmt war. Als sie jedoch einmal vorsichtig nachgefragt hatte, wurde ihr erklärt, dass sie fürs Kochen bezahlt wurde, nicht fürs Klavierhören. Seitdem schwieg sie, obwohl sich das eine nicht ohne das andere tun ließ, denn die winzige Küche befand sich gleich neben dem großen Festsaal, auf dessen Bühne sich das Instrument befand.
Emilia verzog fast schmerzlich die Stirn, als wieder ein schiefer Ton erklang. Selbst wenn das Klavier richtig gestimmt gewesen wäre – Paolo wäre doch der leidige Spieler
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