Jenseits von Feuerland: Roman
Doch ähnlich wie Paolo sich für einen Sänger hielt, glaubte auch Natascha, sie würde es noch weit bringen, nämlich mindestens bis zum Operettenstar.
Emilia griff nach dem Stofffetzen und sah sich an, wo er gerissen war. »Da ist schnell genäht«, erklärte sie, »besorg mir Nadel und Faden, und ich mache das für dich.«
Natascha lachte beglückt auf, Hella ausnahmsweise auch: »Du kannst nähen?«, fragte sie begeistert.
»Ich kann alles, wenn es sein muss«, erklärte Emilia.
Hella schlug sich stolz auf die Brust. »Ich kann auch viel«, setzte sie selbstbewusst an und erzählte dann eine ihrer vielen Geschichten, die Emilia im Stillen längst als Märchen bezeichnete, weil sie wusste, dass sie sich unmöglich so zugetragen haben konnten: Von weiten Reisen durch Eis oder Wüsten war die Rede, von wilden Hunden oder Tanzbären, die Hella mit bloßem Blick bezähmt hätte, von reichen Fürsten, die sie hätten heiraten wollen, deren Anträge sie aber ausgeschlagen hätte, weil sie frei bleiben wollte, von wilden Ritten auf schwarzen Hengsten, bei denen sich keine als so elegant herausgestellt hätte wie sie.
Sie schwieg erst wieder, als sie die nunmehr dritte Empanada in sich hineinstopfte. Auch Natascha griff nach einer und aß hungrig.
»Und du?«, fragte sie Emilia. »Du selbst isst gar nichts?«
Bis jetzt hatte Natascha sie äußerst distanziert behandelt, war sie doch der Meinung, dass eine Köchin weit unter einer Soubrette stand, doch dass Emilia ihr das Kleid nähen wollte, zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Emilia schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger.«
Das Lächeln wurde nachsichtig. »Du leidest Kummer um einen Mann, stimmt’s?«
»Ganz gewiss nicht!«, entgegnete Emilia trotzig.
Natascha nickte wissend. »Es sind immer die Männer, die einem den Appetit rauben. Hat er dich betrogen?«
Emilia sah ein, dass sie ihr nichts vormachen konnte. »Also gut«, murmelte sie, »es gibt einen Mann. Aber so wichtig ist er nicht, dass er mir den Appetit nehmen könnte. Und ich will nicht über ihn sprechen.«
Eigentlich wollte sie nicht einmal an ihn denken. Nur manchmal stieg sein verzweifeltes Gesicht vor ihr auf, wie er sie am Tag ihrer Ankunft um Vergebung angefleht hatte und später, als sie diese ihm verweigerte, gefragt hatte, wohin sie denn wolle, so fast ohne Geld – schließlich hätte sie den größten Teil für die Schiffspassage ausgegeben. Sie habe sich noch immer selbst durchgebracht, hatte sie energisch bekundet – solle er sich nur um seine rechtmäßige Frau kümmern.
Emilia schüttelte den Kopf, um den Gedanken daran zu verdrängen und sich nicht einzugestehen, dass sie in diesem Augenblick Hamburg genauso gehasst hatte wie ihn. Sie kämpfte darum, diesem Gefühl nicht nachzugeben, und war froh, sich hier mit Arbeit betäuben zu können, doch immer wenn sie kurz innehielt, konnte sie sich vor der Wahrheit nicht blind stellen: Dies hier war nicht ihre Heimat. Die wilde, stürmische Weite Patagoniens fehlte ihr so sehr. So karg die Landschaft dort auch war – im Rückblick schien es ihr, als wäre sie dort stetig aufgeblüht, während sie hier verkümmerte. Nun, zumindest konnte sie hier einer ihrer größten Leidenschaften nachgehen – dem Kochen. Es half ihr über das Heimweh hinweg; die Fremde fühlte sich nicht mehr ganz so fremd an, solange sie etwas Vertrautes tun konnte.
Natascha starrte sie nach wie vor an. »Sagst du mir wenigstens, wie er heißt?«
Emilia schüttelte abweisend den Kopf. »Ich habe nicht vor, seinen Namen jemals wieder auszusprechen.« Sie hob den Blick, und ihre Stimme wurde gleichmütig: »Will jemand noch Empanadas haben?«
Anfangs hatte sie sich noch dagegen gesträubt, doch nachdem Emilia sie von ihren Kochkünsten überzeugt hatte, überließ Hella es ihr, die Einkäufe zu übernehmen, und vertraute ihr das Geld dafür an. Ein gewisses Misstrauen konnte sie trotzdem nicht ablegen. Jedes Mal, wenn Emilia zurückkam, ließ sie sich alle Preise auflisten und zählte das Geld, das übrig geblieben war, akribisch nach. Emilia hatte nicht im Sinn, sie zu betrügen, aber sie dachte sich stets, dass es ein Leichtes wäre, wenn sie es denn nur wollte. Hella tat zwar so, als sei sie die beste Haushälterin von ganz Hamburg, aber in Wahrheit hatte sie keine Ahnung von den aktuellen Preisen. Eines der vielen Märchen, die sie erzählte, handelte davon, dass sie einmal einen Witwer und dessen sieben Kinder versorgt hatte, nachdem die
Weitere Kostenlose Bücher