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Jenseits von Feuerland: Roman

Jenseits von Feuerland: Roman

Titel: Jenseits von Feuerland: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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wieder gestottert.«
    Bruno war etwas robuster als Paolo, aber nicht kräftiger bei Stimme. Er hatte das Amt des Rekommandeurs oder, wie er sich selbst nannte, des Bajazzos, inne, der mit bunter Kleidung vor dem Eingang des Varietés stand und das Programm in höchsten Tönen anpries. Da sich im Moment sechs Vorstellungen am Tag aneinanderreihten, hatte Emilia seine Stimme eigentlich ständig im Ohr. Übertönt wurde sie nur vom Straßenlärm und von Paolos Klavierspiel, und sie konnte seine Worte auswendig mitsagen, wenn er wieder einmal die Hamburger Lokalpossen lobte, die den Schwerpunkt ihres Programms bildeten: Familie Eggers oder Eine Hamburger Fischfrau von Julius Schölermann zum Beispiel.
    »Warum bin ich von lauter Idioten umgeben?«, fragte Hella gespielt verzweifelt. »Warum wähle ich treffsicher die Leute, die zu nichts taugen? Dich ausgenommen, Emilia, du verstehst hervorragend zu kochen. Aber stell dir vor! Erst gestern habe ich zu Paolo gesagt, er soll mir zwei Zwerge besorgen. Bei Ira nebenan lief das komische Duett der Zwergathleten nämlich hervorragend, und ich kann doch nicht zusehen, wie sie mehr Publikum anlockt als ich. Doch womit kam Paolo zurück? Mit zwei tumben Kindern, die sich nur als Zwerge ausgeben! Ich verliere noch den Verstand inmitten all dieser Dummköpfe … ach herrje …«
    Sie schob sich eine krosse Empanada in den Mund und biss gierig zu. Das Fett lief über ihr Kinn, und ihr roter Lippenstift wurde verwischt.
    »Du hättest mich früher treffen müssen, Emilia«, fuhr sie klagend fort, »hättest sehen müssen, was ich in den sechziger Jahren alles erreicht habe. Das war eine gute Zeit damals, vor allem als endlich die Torsperre an Millern- und Nobistor aufgehoben worden war und die Hamburger in unsere Stücke eilten. Oh, ich war eine große Schauspielerin! Meinen Durchbruch hatte ich mit Ingomar, der Bluthund, einem romantischen Trauerspiel. Ich habe jeden Abend auf der Bühne geweint – echte Tränen versteht sich! Das Publikum war so gerührt – das hat gleich mitgeweint. Und natürlich war ich auch das Gretchen in Faust – in der etwas abgewandelten Form natürlich. Auf den Bühnen in Sanct Pauli kann man schließlich nicht Goethe im Wortlaut aufführen. Als Faust das arme Ding verlassen will, war das Publikum so erzürnt, dass ein Hagel von Äpfeln und Kartoffeln auf ihn einprasselte. Er musste auf offener Bühne versprechen, mich, das heißt das Gretchen, doch zu heiraten und nicht auf den bösen Mephisto zu hören.« Sie seufzte schwer. »Aber dann wurde das Volkstheater geschlossen … und ich bin hier gelandet …«
    Sie seufzte abermals und schwieg kurz, um eine zweite Empanada zu essen, doch kaum war es ausnahmsweise angenehm ruhig – sogar das Klavier war zwischenzeitig verstummt –, ertönte lautes Geheule. Im nächsten Augenblick stand ein verzweifeltes Mädchen in der Küche. »Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun? Heute Abend ist doch Premiere!«
    Emilia brauchte eine Weile, um zu begreifen, was das Mädchen derart bekümmerte. Es hielt anklagend einen Stofffetzen in die Luft, der sich bei genauerer Betrachtung als Kleid herausstellte. Ähnlich wie bei Hellas Kleidern gab es mehr preis, als dass es etwas verbarg.
    »Es ist zerrissen!«, klagte das Mädchen, das sich Natascha nannte, obwohl sie – so wenig, wie man Paolo den Italiener ansah – nichts Russisches an sich hatte. Natascha war eine feiste Maid mit roten Wangen, die – wie Emilia vermutete – bis vor kurzem noch auf einem Bauernhof geschuftet hatte. Das gab Natascha natürlich nicht offen zu – das konnte Emilia lediglich an ihren groben, zerfurchten Händen ablesen. Sie hatte in Hellas Varieté als Soubrette begonnen, die sich weniger durch ihr Stimmchen, als durch den prallen Ausschnitt auszeichnete. Ersteres war ohnehin nicht so wichtig – wenn das Publikum begeistert war, begleitete es die Refrains mit alles übertönendem Gläserklirren und Schlüsselklappern.
    »Was stellst du dich aber auch so ungeschickt an!«, fauchte Hella.
    »Dieser Stoff ist von schlechter Qualität«, heulte Natascha. »Kein Wunder, dass er sofort zerreißt, wenn man ihn nur anfasst.«
    So oft, wie Hella einstigen Rollen und ihrer Jugend nachklagte, schimpfte Natascha über die schlechten Kleider: Anderswo in Sanct Pauli, behauptete sie oft, würden die Damen in eleganten Salon-Kostümen auftreten. Hella hatte trocken eingeworfen, dass diese Damen auch besser singen und tanzen konnten.

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