Jenseits von Feuerland: Roman
Verrotzte Kinder glotzten sie ebenso träge an wie Frauen mit leeren Blicken und Alte mit krummen Rücken, und dazwischen staksten ein paar Tiere und verdreckten den ohnehin schon schmutzigen Boden noch mehr.
Emilia floh eilig – nicht nur vor dem Gestank, sondern auch vor der Hoffnungslosigkeit. Auch in Punta Arenas gab es ärmliche Straßen, doch die Stadt war nicht groß genug, um dieses Ausmaß an Not zu beherbergen, und in der patagonischen Steppe wiederum gab es nur Ödnis und Leere und Weite – jedoch nicht dieses Elend.
Bis zu diesem Augenblick hatten Sturheit und Stolz sie angetrieben und nicht zuletzt der feste Wille, sich auch ohne Arthur durchzubringen. Nun begann Mutlosigkeit an ihr zu nagen. Sie war ganz alleine hier. Wenn sie nicht für sich selbst sorgte, würde es kein anderer tun. Niemand würde sie pflegen, wenn sie krank würde, niemand sie begraben, wenn sie fernab der Heimat starb. Und auch wenn sie gesund und stark blieb – wie lange würde es wohl dauern, bis sie wieder genug Geld gespart hatte, um eine Schiffspassage bezahlen zu können?
In diesem Augenblick wusste sie nicht, wen sie mehr verfluchte: sich selbst, weil sie so lange von Deutschland geträumt hatte und diesem Traum schließlich gefolgt war, oder Arthur, ohne den sie nie so schnell und ohne jegliche Vorkehrung aufgebrochen wäre.
Sie schimpfte leise grummelnd sowohl auf sich als auch auf ihn – bis sie plötzlich verstummte und kurz den Eindruck hatte, sie fände sich in einem Traum wieder. Ohne hochzublicken, war sie durch eine der Straßen gelaufen – und plötzlich gegen ebenjenen gerannt, dem ihre Flüche galten.
»Emilia!«
Wie aus dem Nichts schien Arthur aufzutauchen – das Gesicht etwas verschwitzt, die Augen aufgerissen und immer wieder ihren Namen stammelnd.
Wenn auch kein Traum, so musste seine Erscheinung doch ein Trugbild sein – unmöglich, dass er sie in einer solch großen Stadt wie Hamburg finden konnte!
Genau das schien ihm auch aufzugehen, denn in seinem Gesicht stand nicht nur Erleichterung, sondern auch Fassungslosigkeit. Er brauchte eine Weile, bis er etwas anderes stammeln konnte als nur ihren Namen: »Ich … ich suche dich seit Wochen!«, brach es aus ihm hervor. »Ach Emilia, ich konnte nichts anderes mehr tun, ich war ständig auf den Beinen … Flori musste mir helfen … Selbst einen Detektiv habe ich auf dich angesetzt. Er glaubte, dich in Sanct Pauli gesehen zu haben, doch wo genau du hier lebst, wusste er nicht … fast habe ich die Hoffnung aufgegeben … und nun … O Gott sei Dank, o Gott sei Dank!«
Er streckte seine Hände nach ihr aus und wollte sie an ihren Schultern ergreifen. Prompt versteifte sie sich und wich zurück. Eben noch hatte der Gedanke sie beängstigt, hier ganz auf sich allein gestellt zu sein – nun zählte nur mehr die Kränkung bei ihrer Ankunft, als sie nicht nur als Hure bezeichnet worden war, sondern auch erfahren hatte, dass Arthur verheiratet war. Besser war, ganz allein zu leben, als so beschämt zu werden!
»Bleib mir vom Leib!«, fauchte sie ihn an.
»Emilia!«, flehte er. »Ich tue alles, was du willst, aber du darfst nicht wieder einfach verschwinden. Ich dachte schon, ich würde dich nicht wiedersehen, und …«
»Lass mich einfach in Ruhe!«, unterbrach sie ihn schroff. Ihr Tonfall mäßigte sich etwas, als sie fortfuhr, aber ihre Worte blieben unerbittlich: »Ich brauche dich nicht. Werde glücklich mit deiner Frau …«
»Aber sie ist doch nicht meine Frau«, rief er hastig, um sich alsbald kleinlaut zu berichtigen: »Das heißt, sie ist schon meine Frau, aber es ist anders, als du denkst.«
»Du weißt überhaupt nicht, was ich denke!«
»Du denkst, ich hätte dich belogen, hätte ein falsches Spiel mit dir getrieben, ja, hätte dir die Ehe versprochen, obwohl ich längst verheiratet war. Aber ich wollte … Ich will dich wirklich heiraten, Emilia. Das war der Grund, warum ich nach Hamburg zurückgekehrt bin. Um diese Sache zu klären und …«
»Diese Sache ist eine Frau! Eine Frau, die mich Hure nannte!«
»Was unverzeihlich ist und …«
»Was vor allem völliger Unsinn ist!«, schnitt sie ihm wieder die Rede ab. »Denn wäre ich eine Hure, würde ich mich an deine Brust werfen, auf dass du für mich sorgst. Aber das musst du nicht. Mich zwingt man zu nichts. Mich kauft man nicht. Und jetzt scher dich zum Teufel!« Sie hätte es nie zugegeben, aber es war eine ungeheure Wohltat, ihn anzuschreien. Mit jedem Wort
Weitere Kostenlose Bücher