Jenseits von Feuerland: Roman
Gattin an Schwindsucht verblichen war. Emilia glaubte ihr kein Wort. Wenn Hella tatsächlich alles können würde oder erlebt hätte, was sie stolz erzählte, hätte sie mindestens sieben verschiedene Leben leben müssen.
So lästig ihr Hellas Abrechnungen waren – sie genoss die Selbständigkeit, wenn sie das Varieté verlassen und später mit vollen Körben wiederkehren konnte. Wenn es regnete, beeilte sie sich mit den Einkäufen. Doch als das Wetter im Laufe des Juli wärmer und strahlender wurde und die Erinnerungen an den grauen Ankunftstag verblassten, erforschte sie die Umgebung des Varietés – den Spielbudenplatz ebenso wie die Reeperbahn.
Auf den langen Promenaden war immer etwas los. Fuhrwerke, Pferdeeisenbahn und Kutschen blockierten die Straßen. Damen mit Sonnenschirmen und Männer im Frack flanierten an den Baumreihen entlang. Cafés reihten sich an Restaurants, Bierhallen und Singspielhallen, die man im Volksmund »Krähmatorien« nannte. Nie zuvor hatte Emilia so große Gebäude gesehen wie die hellen Putzbauten und ähnlich breite Straßen. Selbst auf dem überfüllten Marktplatz gab es trotz des Menschenauflaufs immer genügend Platz, um an den Ständen stehen zu bleiben und mit den Marktfrauen zu plaudern. Von ihnen erfuhr sie zum einen, bei wem die Waren frisch waren, und zum anderen, was die Hamburger gerne aßen. So gehörte möglichst fett gebratener Rinderbraten zu den liebsten Fleischgerichten, beim Fisch hingegen war es der Hering, serviert mit Roggenbrot und Klößen. Häufig kaufte Emilia Erdbeeren, weil Hella diese mochte, außerdem Butter, Braten, Schinken und Käse, mit denen sie Brote schmierte, die an die Gäste des Varietés für vierzig Pfennig das Stück verkauft wurden. Außerdem trug sie dafür Sorge, dass immer genügend Mosel- und Portwein sowie Grog gelagert wurden.
Hella war von ihrer Umsichtigkeit begeistert und sprach mit ihr über diverse Rezepte. Emilia glaubte zwar nicht, dass sie alle selber ausprobiert hatte, wie sie behauptete, aber sie kochte sie nach, und so kamen Ragouts und Rehbraten auf den Tisch, Pudding und Pasteten und alle möglichen süßen Leckereien: Torten, Konfekt und Cremes. Das Einzige, was sie nicht selbst machen konnte, war Eis. Das war nur in einem der Caféhäuser zu haben, in das Natascha sie einmal lockte. Die ersten Bissen waren zu kalt und zu süß, aber bald gewöhnte sie sich an den Geschmack und gönnte sich dann und wann den Luxus.
Sosehr sie darin aufging, ihr Repertoire an Speisen zu erweitern – so verärgert war sie darüber, dass man um gute Zutaten richtiggehend kämpfen musste. Paolo behauptete, dass es keinen Ort auf der Welt gäbe, wo man öfter übers Ohr gehauen wurde als in Hamburg, und obwohl Emilia überzeugt war, dass jemand wie er – so dürr und schwächlich und von sich selbst eingenommen – wahrscheinlich überall hintergangen wurde, gab sie ihm recht. Mindestens in jeder zweiten Marktbude wurde hemmungslos betrogen, wenn es um Frische und Qualität ging. Da wurde Mehl mit Gips oder Kreide verrührt oder mit getrockneten und gemahlenen Erbsen, Linsen oder Bohnen gestreckt. Da wurde Butter mit der billigeren Margarine vermischt und Schokolade mit Hammelfett zubereitet. Kaffee war oft nichts anderes als gebranntes Getreide oder Zichorie und manchmal sogar mit Sand vermischt, und anstelle von Beefsteak wurde Leber verkauft.
Emilia vertraute gewiss nicht leichtfertig dem Guten im Menschen – schließlich hatte sie auch in Punta Arenas sorgfältig darauf geachtet, ob der Fisch frisch war, und hatte sich beim Schafhandel nie etwas vormachen lassen –, doch das Ausmaß dieser Betrügereien empörte sie. Erst mit der Zeit begriff sie, dass sie nicht immer von der Gier geboren waren, sondern vom Kampf ums nackte Überleben.
So wohlhabend die Stadt mit ihren breiten Straßen wirkte und so viele reiche Menschen hier lebten – wahrscheinlich so viele wie nirgendwo sonst auf der Welt –, so verbarg sich dahinter oft bitterste Armut. Je besser Emilia Sanct Pauli kannte, desto häufiger verließ sie die Hauptstraßen und sah erstmals die Häuser, die Arthur in seinen Erzählungen als »Arbeiterschlösser« bezeichnet hatte. Prächtig waren zwar deren Stuckfassaden und glichen somit den Prachtvillen – doch die Wohnungen dahinter waren klein und erbärmlich. Im ganzen Gebäude gab es oft nur einen Wasserhahn und zwei Klosetts. Als sie einmal in einen solchen Hof blickte, zuckte sie erschrocken zurück.
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