Jenseits von Feuerland: Roman
Antarktis gepeitscht wurden. Keine fruchtbaren Wiesen bedeckten sie, sondern dürre Algen, über denen Seevögel kreisten – Albatrosse mit schwanenweißem Gesicht und mächtigen Flügeln, Regentaucher, die der Algen bald überdrüssig waren und hungrig nach Fischen auf das Wasser herabschossen, Meerlerchen mit ihrem gebogenen Schnabel und Raubmöwen, deren Kreischen zu ohrenbetäubendem Lärm anwuchs. Auf die Heidelandschaft folgten sanfte Hügel mit Eichenwäldern und Brombeerhecken, später Wiesen, die von graubraunen, kniehohen Grasbüscheln, weißen Flecken – entweder Schafe oder Staubflächen – und dann und wann von den winzigen Farbtupfern violetter und gelber Blumen übersät waren.
In der Ferne ragten die ersten Berggipfel auf, und Emilia, die an der Reling stand, starrte fasziniert darauf. Bei Tageslicht von kaltem Blau erglühten sie nun im Abendrot in sanftem Rosa. Bei ihrem Anblick musste Emilia unwillkürlich an die Worte des Walfängers Pedro denken, die er einst, als sie vor vielen Jahren zum ersten Mal die Magellanstraße durchkreuzt hatte, an sie gerichtet hatte. Auf der einen Seite, so hatte er ihr erklärt, war das chilenische Festland, auf der anderen Seite die vielen kleinen, bergigen Inseln von Feuerland.
»Und was kommt jenseits von Feuerland?«, hatte sie gefragt, und seine Antwort hatte gelautet: »Nichts … nur ewiges Eis. Jenseits von Feuerland liegt das Ende der Welt.«
Die Vorstellung von einer menschenleeren Ödnis, von einer erschreckenden, weil nahezu grenzenlosen Weite hatte ihr damals keine Angst gemacht. Sie hatte schrecklichen Kummer gelitten und war sich sicher: Auf jedem Fleckchen Erde – ob besiedelt oder unbewohnt, ob farbenprächtig oder grau, ob voller Sonnenschein oder kaltem Eis – würde sie von diesem Kummer verfolgt sein. Nun aber, da dieser Kummer längst vergangen war, nur Narben zurückgeblieben waren, die nicht mehr schmerzten, erschauerte sie voller Ehrfurcht und kam sich im Angesicht der gewaltigen Natur winzig klein vor.
Plötzlich nahm sie einen Schatten hinter sich wahr. Eine Gestalt trat zu ihr und umschlang ihre Schultern. Es war nicht das erste Mal, dass Arthur sie während der Fahrt umarmte, doch sein Griff war fest, nicht mehr so zögerlich wie am Anfang, da noch so viel zwischen ihnen gestanden hatte.
»Woran denkst du?«, fragte er.
»Dass jenseits von Feuerland nichts mehr kommt …«, murmelte sie nachdenklich.
Arthur lächelte. »Balthasar war immer so neugierig auf Feuerland. Er hätte die vielen Inseln liebend gerne erforscht. Nach allem, was ich weiß, ist das Land noch karger und einsamer als die patagonische Steppe. Nur manchmal wird die Stille vom Seufzen der Gletscher unterbrochen. Kaum Blumen wachsen dort, nur Bohnenbäume und Pfriemengras.«
»Wenn wir dorthin reisen würden so wie damals zum Torres del Paine, dann wäre es zumindest nicht einsam … Dann wären wir zusammen dort.«
Er blickte sie überrascht an. »Willst du es denn?«
»Was?«
»Dorthin reisen?«
»Ach, du Dummkopf!«, fuhr sie ihn an und machte sich unwirsch von ihm los. »Ich wollte dir damit sagen, dass du meine Heimat bist. Und ich mit dir an meiner Seite nirgendwo verloren sein werde und wäre es am Ende der Welt.«
Er erwiderte ihr Lachen, dann standen sie eine Weile schweigend beisammen.
Seine Hand glitt tiefer und streichelte über ihren gewölbten Bauch. Zu Beginn der Reise vor drei Monaten hatte man ihr die Schwangerschaft kaum angesehen – nun war es überdeutlich, dass sie neues Leben in sich trug, auch neues Glück, neue Hoffnung.
Emilia lehnte ihren Kopf gegen seine Brust. Mittlerweile war es nicht mehr so schwer, zu alter Vertraulichkeit zurückzufinden. Als sie in Hamburg abgelegt hatten, hatten sie sich zunächst so distanziert verhalten wie Bruder und Schwester. Doch dann hatten sie zu reden begonnen – und auch wenn sie während ihres Streits in Hamburg behauptet hatte, sie würden zwar Leidenschaft teilen können, aber keine Worte, war es nicht schwer gewesen, im Gegenteil: Stundenlang konnten sie beisammensitzen und einander erzählen.
Arthur sprach von seiner Heirat mit Nora und wie er sie verlassen hatte, auch von der Schuld, die er manchmal empfunden hatte, wenn er an sie dachte, und die er doch immer beiseitegefegt hatte wie ein lästiges Insekt.
Schonungslos ehrlich war er mit sich gewesen, und angespornt von dieser Offenheit, konnte auch Emilia ihm alles sagen, was ihr auf dem Herzen lag. Sie erzählte von der
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