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Jenseits von Feuerland: Roman

Jenseits von Feuerland: Roman

Titel: Jenseits von Feuerland: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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Mal in ihrem Leben Papiergeld bekommen. Es war erst neulich eingeführt worden, und viele Menschen mochten es nicht – Manuel hatte stets darüber gelästert –, aber für sie waren die immer dickeren Stöße an Geldnoten ein Beweis dafür, dass sie es schaffte. Es schaffte, zu überleben. Und es schaffte, genug für die Reise nach Deutschland zu sparen.
    Nur selten gab es Momente, da sie wie jetzt innehielt und dieses Gefühl genoss. In den letzten vier Monaten hatte sie ständig gearbeitet. Sie hatte geputzt, gekocht und eigenhändig Buchendielen auf dem Boden verlegt. Sie hatte den Schimmel von den Wänden geschabt und sie frisch gekalkt; sie hatte drei Katzen gefangen, die ihrerseits die Ratten vertrieben, und hatte Stoff gekauft, um Tischtücher und Vorhänge zu nähen. Rita half, so gut es ging, und Agustina war zwar nicht besonders schnell, aber fleißig und zäh – und trotzdem hatte sie allein die Verantwortung dafür an sich gerissen, dass die Herberge nicht das Drecksloch blieb, als das sie sie betreten hatten. Sie packte zu, als wäre es ihre eigene – mittlerweile gab sie nicht nur Rita, sondern auch Agustina ungeniert Befehle.
    Diese fahrige, bleiche Frau hatte sich keinen Augenblick lang als Herrin aufgespielt, sondern ihr das Wohl des Gasthauses schon nach kurzer Zeit ganz und gar in die Hände gelegt. Ihre Rollen schienen seitdem vertauscht – nicht Emilia wandte sich mit Fragen an sie, sondern umgekehrt, und Agustina heischte bei allem, was sie tat, um Emilias Zustimmung, als wäre sie darauf angewiesen.
    Nachdem sie im Inneren der Herberge halbwegs Ordnung geschaffen hatte, hatte Emilia ein neues Holzschild gekauft, es eigenhändig bemalt und aufgehängt. Seitdem kamen, wie von ihr prophezeit, nicht nur mehr Gäste in die Casa Agustina, sondern auch zahlungsfähigere. Im Sommer waren fast sämtliche Zimmer belegt, und während des Weihnachtsfestes quoll das Haus nahezu über. Emilia hatte es auf bewährte Weise gefeiert, indem sie in der Gaststube ein kleines Bäumchen aufstellte und mit Strohsternen behängte. Die Gäste – es waren nur wenig Deutsche darunter, denen dies vertraut war, denn in Punta Arenas stieß sie, ganz anders als in Mittelchile, auf so gut wie keine Landsleute – hatten darüber gespottet, aber insgeheim hatte es ihnen gefallen. Emilia hingegen wurde immer schwermütiger, je öfter sie an dem Weihnachtsbaum vorbeikam. Sie hatte alten Brauch lebendig gehalten, um das neue Zuhause, so es denn überhaupt als eines gelten konnte, behaglicher zu machen – aber sie hatte nicht bedacht, wie viele traurige Erinnerungen ans letzte Weihnachtsfest der Baum auslösen würde, als ihre Welt noch heil gewesen war. Wie immer betäubte sie den Kummer mit Arbeit, und da zu Beginn des neuen Jahres brütende Hitze über Punta Arenas hing und die Luft zum Schneiden dick war, war sie abends meist so erschöpft, dass sie ins Bett sank und traumlos einschlief, ohne über irgendwas nachzudenken.
    Emilia ließ den Lederbeutel mit dem Geld rasch sinken, als sie Schritte hörte. Sie hatte kaum das Brett über das Loch geschoben, das sie schon früh als bestes Versteck auserkoren hatte, als sich die Tür öffnete.
    »Ach du bist es«, seufzte sie erleichtert, als sie sah, dass es Rita war, die als Einzige von dem Versteck wusste.
    »Selbst wenn Agustina das Geld sehen würde«, murmelte Rita, »sie war immer gerecht zu uns. Sie würde nie dein … unser Geld stehlen.«
    »Was heißt gerecht!«, stieß Emilia aus. »Schlichtweg klug war sie, als sie auf uns setzte! Sie hat nun doppelt so viele Gäste wie früher, die Zimmer sind sauber, das Essen ist gut. Kein Wunder«, ihre Stimme wurde etwas schärfer, als sie fortfuhr, »kein Wunder, dass sie darüber hinwegsieht, wenn du wieder einmal faulenzt!«
    Kopfschüttelnd blickte sie auf das mittlerweile abgegriffene, zerfledderte Buch, das Rita ähnlich ehrfürchtig an sich nahm wie sie selbst ihren Geldbeutel. Während Emilia sich erhob, legte Rita sich aufs Bett. Eine andere Sitzmöglichkeit gab es nicht. Neben dem Bett, in dem sie zu zweit schliefen, gab es in dem engen Raum nur eine Kommode mit einer Waschschüssel aus Blech. Ungeachtet ihrer strengen Worte, blätterte Rita das Buch auf und versank darin. Wahrscheinlich, so dachte Emilia oft, würde sie gar nichts anderes tun, als hier zu lesen, wenn sie sie nicht ständig aufscheuchte. Heute nutzte es allerdings nicht einmal, dass sie die Augen verdrehte. Während sie Rita ansonsten damit

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