Jenseits von Feuerland: Roman
ein schlechtes Gewissen machte, nahm sie es nun gar nicht richtig wahr.
»Ach Rita«, seufzte sie, »es gibt so viel zu tun …«
Zu ihrer Überraschung blickte Rita auf. »Ich weiß«, erklärte sie kleinlaut, »ich sollte dir helfen, immer und überall. Aber diese wenigen Stunden … ich mag dir als faul erscheinen … Doch wenn ich sie nicht habe, dann könnte ich noch weniger Kraft aufbringen … all das zu ertragen …« So klar sie begonnen hatte, so sehr geriet sie jetzt ins Stocken. »Du … du bist stärker, Emilia«, fuhr sie dennoch fort. »Dir macht das alles weniger aus … mit Menschen zusammen zu sein … vor allem mit diesen Männern … für sie zu putzen … zu kochen, aber ich …«
Emilia seufzte. Manchmal sah sie Rita an und glaubte, in einen dunklen Spiegel zu schauen. Nicht, dass sie auf den ersten Blick irgendetwas mit dem Mädchen gemein hatte, das so viel zarter, stiller, zurückhaltender wirkte als sie. Aber die heimlichen Ängste und die stete Trauer über zurückliegende Verluste, dieses Gefühl, dass das Leben kein Leben war, sondern nur Überleben, und die Überzeugung, dass die Vergangenheit etwas war, vor dem man davonlaufen musste, teilte sie mit ihr – nur, dass sie all das besser verbarg. Dass Rita sich regelmäßig von der Wirklichkeit davonstahl, ärgerte sie vor allem darum, weil es für sie selbst eine so verführerische Aussicht war, sie jedoch nicht wusste, wie sie es anstellen sollte.
»Ich verstehe ja, dass du dich in der Gaststube nicht wohl fühlst«, seufzte Emilia. »Und meinetwegen – wir haben im Moment nicht so viele Gäste, ich erledige das heute Abend allein. Aber jetzt brauche ich dich – für den Einkauf. Wir gehen zum Markt!« Emilia versuchte, mitreißend zu klingen, und tatsächlich schloss Rita ergeben das Buch und erhob sich – von der Aussicht auf einen freien Abend zu ungewohnt schnellen Bewegungen angespornt – vom Bett.
Wenig später hatten sie die Casa Ayarza verlassen. Früher war Agustina selbst einkaufen gegangen oder hatte sie begleitet, mittlerweile vertraute sie ihnen das Geld an, das sie für die Besorgungen brauchen würden. Emilia hatte längst herausgefunden, wo es die gewünschten Waren billiger gab als in jenen Geschäften, zu denen Agustina sie schickte, und behielt stets die Differenz ein. Sie ahnte, dass Rita über diesen Betrug entsetzt gewesen wäre, und fühlte sich selbst nicht ganz wohl dabei, doch die Gier, ihre Ersparnisse aufzustocken, war größer als das schlechte Gewissen gegenüber Agustina, die sie schließlich, so versuchte sie sich zumindest einzureden, nicht wirklich schädigte.
Mittlerweile fand sich Emilia in Punta Arenas gut zurecht, und zielstrebig machten sie sich auf den Weg zu einem der tiendas de abarrotes – den Lebensmittelgeschäften, die vor allem in den Händen italienischer Einwanderer lagen. Meist waren sie an Gaststätten, Pensionen und Gemischtwarengeschäfte angeschlossen, und Emilia war immer ein wenig neidisch, wenn sie sich vorstellte, wie viel man zusätzlich verdienen konnte, wenn man nicht nur ein Bett und eine Mahlzeit anbot, sondern Reiseproviant für die nächste Etappe verkaufte. Insgeheim träumte sie davon, auch die Casa Ayarza entsprechend zu vergrößern, doch noch war die Zeit nicht gekommen, mit Agustina darüber zu sprechen.
Was man bei den Italienern nicht kaufen konnte, hatten meist die Juden oder Schweizer in ihren Läden vorrätig. Ein Teil von ihnen versuchte sich an den Rändern der Stadt an Ackerbau und Viehzucht – der andere Teil war in den Handel eingestiegen, um deren Erzeugnisse zu verkaufen. Wenn es schnell gehen musste, machte Emilia mit ihnen Geschäfte, doch wenn sie Zeit hatte, mied sie die Händler, sondern ging direkt zu den Bauern, wo sie Kartoffeln, Gemüse, Weizen und Hühner viel billiger bekam. Die Schweizer hatten sich hinter dem einstigen Gefängnis niedergelassen, und inzwischen kannte sie die Namen der meisten von ihnen.
Fische in bester Qualität bekam man wiederum bei den Portugiesen, die auch den Schiffsbau beherrschten, und Schaffleisch von den Engländern, die zunächst auf den Falklandinseln Schafe gezüchtet hatten, nun aber immer mehr Land um Punta Arenas aufkauften, um Estancias zu errichten. Und dann gab es auch noch die Ureinwohner Patagoniens, die sich – von der Stadt angelockt und vom Schnaps, der hier floss – an deren Ausläufern niedergelassen hatten. Bei ihnen konnte man Reis, Mate, Tabak sowie Zucker und
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