Jenseits von Feuerland: Roman
dort.
»Goldsucher aus Kalifornien behaupten, es sieht hier aus wie im Wilden Westen«, erklärte Ana und vollführte bei einem der Häuser eine einladende Bewegung. Als Einziges sah dieses Haus nicht nur stabil aus – die Wände waren aus Stein errichtet –, sondern auch ziemlich reinlich. Rita hatte sich aufs Schlimmste gefasst gemacht, als Ana vorhin von dem Loch geredet hatte, in dem sie Unterschlupf gefunden hätte, doch als sie vor der Tür dieses Hauses stehen blieben, wagte sie ihren Blick zu heben und es zu mustern.
»Ja, hier lebe ich!«, verkündete Ana spöttisch. »Ernestas Bordell. Einst, das hat sie mir einmal erzählt, stand sie vor der Entscheidung, Mädchen zu verkaufen oder Wein. Sie hat sich für die Mädchen entschieden, denn sie behauptet, sie könnte geile Männer besser um sich ertragen als besoffene.«
»Du sprichst von Ernesta Villan, nicht wahr?«, fragte Emilia und klang irgendwie ehrfürchtig.
Rita war erstaunt, woher sie diesen Namen, der ihr selbst völlig fremd war, kannte. Aber Emilia unterhielt sich schließlich weitaus öfter mit den Gästen als sie – und diese mussten ihr von jener Ernesta Villan erzählt haben.
»So ist es«, antwortete Ana. »Sonst sind es überall Männer, die das Geld der Freier abkassieren. Ernesta ist die einzige Puffmutter in Punta Arenas.«
Sie sprach halb respektvoll, halb verächtlich, und in ihren Augen glänzte es ebenso bewundernd wie hasserfüllt.
Rita zog an Emilias Arm. »Sollen wir nicht wieder …«
Das Entsetzen über die unerwartete Begegnung mit Esteban hatte sich etwas gelegt, und sie konnte nicht leugnen, dass sich zu dem Unbehagen, hier zu sein, auch ein wenig Neugierde gesellte. Und dennoch – Bruder Franz hätte diese Gasse als Sündenpfuhl bezeichnet, und ob nun gefährlich oder nicht, es war gewiss ratsam, schnell wieder zu fliehen. Emilia ignorierte sie jedoch. Auch in ihrem Gesicht standen sich widerstreitende Gefühle – sie wirkte abgestoßen und fasziniert zugleich.
»Ana!«, ertönte da plötzlich eine heisere Stimme. »Wo bist du so lange gewesen?«
Rita hob den Kopf und sah eine Frau, die von einem der oberen Fenster auf sie herabblickte.
»Tja«, murmelte Ana, »man hört so viele Geschichten über sie, aber man muss Ernesta Villan gesehen haben, um sich ein Bild von ihr machen zu können.«
Trotz ihrer Scheu vor fremden Menschen konnte Rita die Augen nicht von Ernesta lassen. Unter einer Puffmutter hatte sie sich eine junge, tatkräftige Frau vorgestellt. Doch der Kopf, der aus dem Fenster lugte, war schlohweiß, die Haut runzelig und von Altersflecken übersät. Ernestas farblose Augen waren so stechend wie die eines Raubvogels, und dieser Eindruck wurde von einer sehr krummen Nase noch verstärkt. Wenn auch nichts Schönes an dieser Frau zu sehen war – eitel schien sie dennoch zu sein. Nie hatte Rita zuvor einen Menschen gesehen, der so viele Juwelen trug: gleich mehrere Ketten um den Hals, riesige Ohrringe, mit Perlen besetzte Kämme und Armreifen, die so schwer schienen, dass sie vom Gewicht jederzeit nach vorne gezerrt und auf die Straße stürzen könnte. Am auffälligsten aber war der Geruch, den Ernesta Villan verströmte. Obwohl ein paar Meter zwischen ihnen lagen, war Rita innerhalb kürzester Zeit von einer dichten, durchdringenden Parfümwolke eingehüllt. Es roch so stark, dass Rita das Gefühl hatte, gleichzeitig würgen und niesen zu müssen, und Emilia, das erkannte sie mit einem knappen Seitenblick, erging es nicht anders.
Ana hingegen hatte sich an diesen Geruch wohl längst gewöhnt.
»Es ist viel zu viel«, stellte sie trocken fest. »Ernesta kennt einfach kein Maßhalten. Zu viel Jasmin, zu viel Moschus, zu viel Veilchenduft. In allem übertreibt sie es. Sie trägt zu viel Schmuck und selbst im Sommer Pelze. Und ihr könnt euch nicht vorstellen, wie ihre Räumlichkeiten eingerichtet sind. An nichts wird gespart! Sie hat Tapeten aus Frankreich, einen marmornen Waschtisch aus Italien, lederbezogene Stühle und vergoldete Kamingitter aus Flandern. Nichts, womit sie sich umgibt, darf aus Patagonien stammen, das ist ihr viel zu minder. Stattdessen musste alles über den Atlantik herbeigeschafft werden. Doch glaubt nicht, dass man sich inmitten dieser Schätze wohl fühlt! Es gibt kaum Platz, um zu stehen oder aufrecht zu sitzen. Man hat das Gefühl, jederzeit erschlagen zu werden – von einer der vielen Uhren oder Vasen oder Spiegel.«
Rita hatte Mühe, sich einen solchen Raum
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