Jenseits
ich tat es nicht; schließlich war ich kein siebenjähriges Mädchen mehr. Und er war nicht mehr der nette Onkel, der Zaubertricks mit Tauben machte, als der er mir damals erschienen war. Also blieb ich lieber auf Abstand.
»Ich glaube, hier liegt ein Fehler vor«, sagte ich, während er mich losließ und aus seiner Manteltasche eines dieser goldenen Dinger zog, die ich auch bei den anderen Wächtern gesehen hatte. Bestimmt schlug er gerade meinen Namen nach.
»Deswegen bin ich ja so froh, dass ich dich gefunden habe. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass ich hierher gehöre. Ich meine, ich will nicht unhöflich erscheinen, aber …« – und dann sprudelten die Worte einfach so aus mir heraus, ohne dass ich es verhindern konnte – »… wo auch immer wir hier sind, hier ist alles einfach grauenhaft. Bist du hier der Manager oder so was?«
Ich war ziemlich sicher, dass er genau das war, und trotzdem stellte ich gerade seine Kompetenz in Frage. Eine schlechte Angewohnheit, die ich von meinem Dad übernommen hatte, der in einem Restaurant ohne zu zögern jedes Steak und jede Flasche Wein zurückgehen ließ, wenn sie nicht seinen Qualitätsvorstellungen entsprachen.
»Man könnte hier wirklich mal ein bisschen was verändern«, plapperte ich weiter, während er auf seinem kleinen Gerät las, was immer das Ding über mich zu sagen hatte. »Es gibt keine Schilder oder dergleichen, die einen darüber aufklären, wo man ist oder wann das nächste Schiff fährt, und ich glaube nicht, dass wir alle auf dieses eine hier passen werden, außerdem ist es wirklich kalt hier, niemand hat Handyempfang, und …« – ich beugte mich ein wenig näher heran, damit die anderen Wächter uns nicht hören konnten, obwohl das bei dem ganzen Tumult um uns herum und dem Rasseln der Ankerkette des gerade anlegenden Schiffes ohnehin unwahrscheinlich war – »die Ordner da drüben. Die sind ganz schön grob.«
»Tut mir leid.« Er steckte das Gerät zurück in seinen Mantel, zog ihn aus und legte ihn mir um die Schultern. Dann packte er mich am Kragen und zog das Leder enger um mich, und mich damit noch näher an sich heran. »Besser jetzt?«
Ich war zwar ein bisschen verdattert, dass er nicht begriffen hatte, was ich ihm hatte sagen wollen, aber wenigstens war mir jetzt wärmer. Der Mantel wog ungefähr eine Tonne und dampfte beinahe von der Wärme seines Körpers. Ich nickte.
Den Kragen hatte er immer noch nicht losgelassen, und es war seltsam, ihm so nahe zu sein, denn er war bestimmt kein netter Onkel, sondern vielmehr ein junger Mann in etwa meinem Alter. Einer, der eine ganze Menge männlichen Sexappeal verströmte.
Ich fragte mich, ob ich nicht besser in meiner Schlange geblieben wäre. Die Leute gingen jetzt an Bord, und das Schiff sah, aus der Nähe betrachtet, gar nicht mal so übel aus.
»Ich habe nicht nur von mir geredet«, sprach ich, etwas langsamer, weiter. »Jeder hier ist kurz vorm Austicken. Wir sind alle nass und ausgekühlt.« Ich deutete auf die Schlange derer, die nicht an Bord der Fähre gelassen wurden, die gerade angelegt hatte. »Und was passiert mit denen?«
Er blickte kurz in die Richtung und sah dann wieder mich an. Immer noch hielt er den Mantelkragen in seinen Fäusten, damit er nicht von meinen Schultern rutschte. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er, sein Gesicht wieder hart, die Augen grau wie ein stürmischer Himmel, als spreche er nicht gerne über das Thema. »Für die kommt auch noch ein Schiff.«
»Trotzdem haben sie eine bessere Behandlung verdient«, erwiderte ich und zuckte zusammen, als ein weiterer Mann versuchte, an Bord der Fähre zu kommen, und mit brutaler Gewalt von einem Wächter zurück an seinen Platz gezerrt wurde. »Es ist doch nicht ihre Schuld, wenn …«
Er beugte sich jetzt so nahe heran, dass sein Gesicht mir den Blick auf die Anlegestelle und alles, was dort vor sich ging, versperrte. »Möchtest du lieber woanders hin?«, fragte er. »Weg von diesem Strand? Irgendwohin, wo es wärmer ist?«
»Im Ernst?«, erwiderte ich und spürte, wie Wogen der Erleichterung meinen Körper durchströmten. Endlich hatte er begriffen, dass hier ein Fehler vorlag, und würde alles wieder in Ordnung bringen. Ich konnte wieder nach Hause. »Oh ja, bitte!«
Dann blinzelte ich, wie wir Menschen es oft tun, vor allem wenn wir geweint haben. Doch als ich meine Augen wieder öffnete, war ich immer noch nicht zu Hause.
Aber auf dem Strand war ich auch nicht mehr. Und was ich für das Ende
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