Jenseits
jedoch gemeinsam mit Hunderten von anderen Schülern, die von den umliegenden Inseln angekarrt worden waren (es gab über eintausendsiebenhundert davon, wie Mom mir eines Tages erklärt hatte, während sie mir gleichzeitig aufzählte, auf welcherlei Arten Dads Firma das Ökosystem hier systematisch zerstörte), zu meinem ersten Tag auf der Highschool antrat, war mir ziemlich mulmig zumute. Ich musste erst gar nicht nach meinem Diamanten schielen, den ich ohnehin nicht mehr hatte.
Trotz aller vorbereitenden Worte seitens Jade war das alles zu viel für mich. Noch nie hatte ich so viele Schüler auf einmal gesehen, schon gleich gar nicht so viele Jungs, die sich in einem schier endlosen Strom in vier gigantische Gebäude ergossen, in deren Mitte sich ein asphaltierter, zentraler Hof befand – das »Viereck«, wie ihn laut Jade alle nannten, und in dessen Mitte wiederum im Schatten von ein paar Dutzend Bäumen unzählige Picknicktische standen. Dort, hatte Jade mir erklärt, würden wir jeden Tag zu Mittag essen.
Die Cafeteria war also im Freien. Toll . Was für ein Schwachsinn, ganz egal, wie super Jade diese Freiluft-Cafeteria auch finden mochte.
Nur Oberstufler durften den Campus zum Mittagessen verlassen. Ich war zwar in der Oberstufe, aber wie zum Teufel sollte ich vom Campus wegkommen? Ich hatte keinen Führerschein. Die Behörden in Connecticut hatten sich offensichtlich dem Urteil meiner Psychiater angeschlossen und hielten es für keine gute Idee, mich ans Steuer eines Fahrzeugs zu lassen. Auf Jades Drängen hin hatte ich mir zwar den Führerschein-Eignungstest des Staates Florida im Internet angesehen, aber auf dem standen sogar noch mehr Fragen als auf dem zu Hause in Connecticut. Es war absolut hoffnungslos.
»Wir treffen uns mittags im Viereck«, hatte Alex noch im Auto gesagt, »und holen uns ’nen Burger.« Aber als es dann Mittag war, konnte ich ihn natürlich nicht finden. Er hatte mir keinen Treffpunkt genannt. Typisch Alex. Typisch ich außerdem, dass ich vergessen hatte, nachzufragen.
Ich holte mir also zwei Dosen Limo mit Koffein, eine Tüte Nüsse, eine Tüte Chips und eine Tüte Cracker am Automaten und verzog mich damit in die Bibliothek, um sie dort in aller Ruhe und Abgeschiedenheit zu verspeisen. Das schien mir am sichersten.
In der Bibliothek war es dann auch, wo Jade mich aufspürte. »Pierce«, sagte sie und zog den Stuhl unter dem Pult neben mir heraus, um sich hinzusetzen. »Ich habe dich gesucht.«
»Ich bin hier«, erwiderte ich ein wenig dümmlich, denn es war wohl einigermaßen offensichtlich, dass ich hier war. Ich nahm meine Ohrhörer ab. »Wie geht’s?«
»Gut«, antwortete Jade. »Und wie geht’s dir? Wie ich sehe, hast du’s nicht geschafft, zum Mittagessen in die Cafeteria zu gehen.«
»Nein, heute nicht. Vielleicht morgen.«
Was sollte ich denn sagen? Dass ich lieber drinnen blieb, weil meine Halskette mich nicht länger beschützen konnte? Ich glaubte ohnehin nicht, dass ich sie noch brauchte. Oder vielleicht doch?
»Hey, schon in Ordnung«, erwiderte Jade. »Ich versteh das.« Sie hatte sehr dunkles Haar und trug jede Menge Lederbändchen an Hals und Handgelenken. Auf einem Arm hatte sie ein Tattoo. »Pass auf dich auf, sonst gehst du drauf«, war dort in eigenartig verschnörkelter Schrift zu lesen. »Aber wenn du reden willst, vielleicht über diese Sache, die an deiner alten Schule mit deinem Lehrer passiert ist, oder über diese Freundin von dir, die gestorben ist … egal was. Du weißt, wo du mich findest.«
Ja, ich wusste, wo ich sie finden konnte. Die Büros der Mitarbeiter des Neue-Wege-Programms waren im D-Flügel, wo praktischerweise auch alle meine Kurse stattfanden.
Ob sie das wirklich ernst gemeint hatte? Dass wir über alles reden konnten? Zum Beispiel über den Typen, dem ich letzte Nacht auf dem Friedhof begegnet war? Ich war ihm nämlich schon mal begegnet, und zwar als »diese Sache« mit dem Lehrer auf meiner alten Schule passierte, als »diese Freundin« von mir starb.
Oder besser gesagt: als ich versuchte, ihren Tod zu rächen.
Und er einen Lehrer auf direktem Weg ins Krankenhaus beförderte.
»Danke«, sagte ich nur, ohne auch nur ein Wort von alldem zu erwähnen. »Mach ich.«
Jade warf mir einen kurzen Blick zu, halb lächelnd, halb stirnrunzelnd. »Hey«, sagte sie und nahm meine Hand. »Ich meine das ernst. Nichts von dem, was auf deiner alten Schule passiert ist, war deine Schuld. Ich hoffe, du weißt das.«
Mein ganzer
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