Jenseits
ich mich – verletzt darüber, dass sie mich verrückt genannt hatte, und immer noch wie benommen von dem, was John mit dem Juwelier gemacht hatte, sowie regelrecht krank vor Angst, er könnte eines Tages dasselbe mit mir machen – in meinen gläsernen Sarg zurückgezogen und weiter auf den rettenden Märchenprinzen gewartet.
Das war der Grund, weshalb ich das Böse nicht bemerkt hatte. Nicht die Art von Bösem, wie wir alle das Böse gerne hätten, wie es in Geistergeschichten und Horrorfilmen vorkommt. Sondern das wahre Böse, das schon seit vielen Jahren durch die Gänge der Westport Academy for Girls geschlichen war, auf der Suche nach dem unschuldigsten und wehrlosesten Opfer, das es finden konnte.
Als ich endlich merkte, dass es keine Märchenprinzen gibt, dass mein Schicksal allein in meinen Händen liegt und schon immer gelegen hatte, war es zu spät.
Hannah war tot.
Und im Gegensatz zu mir würde sie nie wieder zu den Lebenden zurückkehren.
Mir brach den Schlaf im Haupt ein Donnerkrachen
So schwer, daß ich zusammenfuhr dabei,
Wie Einer, den Gewalt zwingt, zu erwachen.
Dante Alighieri, Göttliche Komödie , Vierter Gesang
I n gewisser Weise bin ich Mr. Mueller sogar dankbar. Er kam letztes Jahr an die Westport Academy for Girls, als ich gerade in meinem dritten Jahr war, und schenkte mir das, von dem ich nie geglaubt hatte, dass ich es haben könnte: etwas Nichtakademisches, für das ich mich ausreichend interessierte, wie Mrs. Keeler das genannt hatte in der Empfehlung, die sie meinen Eltern nach dem Unfall gegeben hatte.
Nachdem er seinen Job als neuer Basketballtrainer angetreten und unsere Mannschaft bis ins Landesfinale geführt hatte, war er bei Schülerinnen und Elternschaft sofort ungemein beliebt gewesen. Und als ob das nicht genug gewesen wäre, bot er auch noch an, »besonderen« Schülerinnen private Nachhilfestunden zu geben. Sogar solchen wie mir, die aufgrund der bei ihnen diagnostizierten Aufmerksamkeitsdefizits-/Hyperaktivitätsstörung, oder kurz gesagt: wegen generellen Desinteresses am Unterricht in sogenannte »Alternativkurse« versetzt worden waren.
Als einziger junger, gutaussehender, männlicher und obendrein Sportlehrer an einer Mädchenschule wäre Mr. Mueller so oder so beliebt gewesen. Aber die kostenlosen Nachhilfestunden hoben sein Ansehen ins Unermessliche.
Ich schien die Einzige gewesen zu sein, die von Anfang an ihre Zweifel bezüglich Mr. Muellers wahren Beweggründen für sein Engagement gehabt hatte. Vielleicht hatte es ja mit einem von Dads Lieblingssprüchen zu tun, der da lautete: Man bekommt nichts im Leben umsonst. Und davon mal ganz abgesehen opfert sich niemand derart für andere auf; schon gar nicht, wenn die einzige Belohnung für die ganze Schufterei in von dankbaren Müttern gebackenen Keksen besteht.
Und als dann eines Tages ein Krümel von ebendiesen Keksen auf mein nacktes Knie fiel, während Mr. Mueller gerade über meinen Tisch gebeugt dastand und mir bei einer besonders kniffligen Algebra-Aufgabe half, fiel mir zum ersten Mal auf, dass es noch etwas anderes gab, das ihn, abgesehen von seinem unglaublich guten Aussehen und seiner scheinbar unbegrenzten Freizeit, vom Rest des Lehrkörpers unterschied.
»Hoppla«, sagte Mr. Mueller und presste die Spitze seines Zeigefingers auf den Krümel und damit auf mein nacktes Knie. Dann hob er seinen Finger an den Mund und leckte den Krümel von der Fingerkuppe.
Zu mir meinte er mit einem Lächeln: »Ach, wie ungeschickt.«
Vielleicht hätte eine Schülerin, die nicht kurz zuvor gestorben war und seitdem von einem beängstigend großgewachsenen Kerl mit silberfarbenen Augen verfolgt wurde, sich nur gedacht: Hey, der steht aber wirklich total auf Kekse.
Ich hingegen zuckte innerlich zusammen. Und zwar nicht, weil ich mir geschmeichelt dachte: Wow, der Typ hat mich tatsächlich gerade angefasst! Es gab andere in meiner Klasse, die ihn regelrecht anhimmelten, aber ich mochte Mr. Mueller nicht, und schon gleich gar nicht mochte ich es, wenn er mich berührte. Ich wollte nicht mal, dass er einen Kekskrümel berührte, der zuvor auf meiner nackten Haut gelegen hatte.
Doch erst als ich nach Hause kam, sah ich es:
»Mr. Mueller hat Pierce Oliviera gerade ans nackte Knie gefasst. SCHARF !!!« Darauf folgten noch Dutzende von Kommentaren in den verschiedensten Schülerinnen-Netzwerken, in denen diese Nachricht gepostet worden war. Sie lauteten in etwa: »Hat die ein Glück!« oder: »Wie hat sie DAS nur
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