Jerry Cotton - 0522 - Das Maedchen mit dem Killerblick
vermochte er wieder, klar zu denken. Er stemmte die linke Hand auf, als wollte er sich herumwälzen, und während dieser Bewegung schob er die rechte Hand unter die Lederjacke. Seine Finger schlossen sich um den Griff der Luger.
»Bleib ruhig auf dem Bauch liegen!« höhnte Rathgill. »Mir kommt’s nicht auf die Läge an, aus der du antwortest, sondern nur auf die Antworten selbst.«
Mit einem Ruck rollte Brant sich in die Rückenlage. Der Schmerz im mißhandelten Fuß fuhr bei der heftigen Bewegung wie die Flamme eines Lötbrenners bis in den Schenkel. Er riß die Luger hoch. »Geht zur Hölle!« schrie er mit überkippender Stimme, die schrill und verzweifelt klang wie die eines Kindes.
Ein Schuß dröhnte ohrenbetäubend in dem kleinen Raum. Die Kugel pfiff wie ein glühender Zugwind an Rathgills Ohr vorbei. Ray Brant kippte nach hinten, als habe er einen furchtbaren Schlag erhalten. Die Kugel traf ihn in die Stirn und tötete ihn auf der Stelle.
***
Rathgill preßte die Hand gegen das Ohr, das vom Knall des Abschusses schmerzte, als wäre das Trommelfell geplatzt. »Idiot!« schrie er Mike Orchard an, der über Rathgills Schulter hinweg auf Brant gefeuert hatte.
»Soll ich zusehen, wie er Don umlegt?« knurrte er in seiner kaum verständlichen, lallenden Sprechweise.
»Nicht notwendig, ihn abzuknallen und mir dabei das Trommelfell zu zerblasen.«
»Ist passiert, Rocco!« sagte Don. »Läßt sich nicht mehr ändern. Besser, wir gehen!«
»Sieh nach, was er in seinen Taschen trägt!«
Orchard beugte sich über den erschossenen Jungen. Er riß die Reißverschlüsse der Lederjacke auf und durchsuchte Rays Kleider. Als er sich aufrichtete, hielt er einen Diamanten zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. »Das hier!«
»Gib her!« Orchard warf den Edelstein. Rathgill fing ihn auf. »Sonst nichts?«
»Nur den einen!«
Rathgill knirschte mit den Zähnen. »Verdammt! Wenn er zwei von den Dingern hatte, wußte er auch, wo sich die anderen befinden.«
Sie verließen das Haus. Auf den Podesten der einzelnen Etagen standen einige Leute, Männer und Frauen, die den Schuß gehört hatten. Als die Gangster herunterkamen, wichen sie hastig in ihre Wohnungen zurück. Die Türen schlugen zu. Rathgill wußte, daß die Bewohner dieses Teils der Bronx sich hüten würden, der Polizei Auskünfte zu geben. Jeder würde behaupten, nichts gesehen, nichts gehört zu haben.
Im Hausflur standen zwei Jungen von ungefähr zehn Jahren. Sie starrten die Männer an, und einer von ihnen wich nicht zur Seite. Im Vorbeigehen gab Rathgill dem Jungen einen Stoß. Der Junge torkelte gegen die Wand und stieß hart mit dem Kopf an. Er weinte nicht.
***
Walt Regerty saß in dem schmierigen Zimmer eines Hotels auf der Westside. Er überzählte seine Barschaft, und er brachte genau einhundertneunzig Dollar zusammen. Obwohl er sparsam mit Francis’ dreihundert Bucks umgegangen war, hatte er einige Ausgaben nicht vermeiden können. Er hatte sich ein paar Hemden, einen Rasierapparat und eine Zahnbürste kaufen müssen. Der Hotelbesitzer hatte eine Wochenmiete als Vorauszahlung verlangt, und zweimal hatte Regerty der Verlockung nicht widerstehen können, seine Sorgen in einer Whiskyflasche zu ertränken.
Er gestand sich ein, daß er mit einhundertneunzig Dollar nahe am Ende war. Wenn Cornell ihn bekam, würde er ihn foltern und danach ermorden lassen. Wenn die Polizei ihn faßte, würden die Beamten bald herausfinden, daß er Friess getötet hatte. Er mußte aus New York verschwinden, aber er brauchte mindestens zwei- oder dreitausend Dollar, um in einer anderen Ecke der Welt sein Glück neu zu versuchen.
Mit skeptischer Ironie überdachte er seine Möglichkeiten: Bankraub, Überfall auf einen Kassenboten, das Knacken eines Tresors. Das alles war wenig erfolgversprechend. Er besaß keine Kumpane, mit denen er zusammen das Ding hätte drehen können: kein Geld und keine Beziehungen, um einen Tip zu kaufen; keine Zeit, selbst wochenlang eine Gelegenheit auszukundschaften.
»Auf jeden Fall sollte ich drei Dollar zurücklegen, um mir einen Strick kaufen zu können, wenn’s mit mir soweit ist«, murmelte er halblaut. Voller Haß dachte er an Mad Cornell, dem er seine scheußliche Situation verdankte. Bei Cornells Namen zuckte ein Gedanke durch sein Gehirn.
Cornell verwahrte in zwei Panzerschränken, von denen einer in den Büroräumen, der andre in seiner Wohnung stand, immer eine Menge Bargeld. Der Großhandel mit den Wiederverkäufern wurde
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