Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
jüdischen Viertel bittere Armut herrschte, entschlossen sich ein paar in ihrer Heimat verfolgte russische Juden, sich dort niederzulassen. [146]
1839 rüstete Ibrahim seine Armee zum Marsch auf Istanbul und überrannte die osmanischen Truppen. Der französische König Louis-Philippe unterstützte die Albaner, während Großbritannien fürchtete, dass der Einfluss der Franzosen und der Russen zu stark werden würde, wenn das Osmanische Reich fiel. Beide Parteien, sowohl der Sultan als auch Ibrahim, versuchten den Westen mit lockenden Geboten auf ihre Seite zu ziehen: Der erst 16-jährige Sultan Abdülmecid proklamierte ein Edikt, das den Minderheiten in seinem Reich eine Gleichbehandlung vor dem Gesetz zusicherte, während Ibrahim den europäischen Mächten die Möglichkeit in Aussicht stellte, in Jerusalem Konsulate einzurichten – und zum ersten Mal seit den Kreuzzügen das Läuten von Kirchenglocken gestattete.
Noch im gleichen Jahr traf William Turner Young, der erste britische Vizekonsul, in Jerusalem ein, entschlossen, nicht nur als Repräsentant der Londoner Regierung aufzutreten, sondern überdies die Juden zu bekehren und das zweite Kommen Christi zu beschleunigen.
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Die Evangelikalisten
1840 – 1855
Palmerston und Shaftesbury: Der Imperialist und der Evangelikale
Für die Diplomatiepolitik der Briten in Bezug auf Jerusalem zeichnete der Staatssekretär des Auswärtigen Lord Palmerston verantwortlich, aber die göttliche Mission war auf dem Mist seines evangelikalen Stiefschwiegersohns, des 7. Earl of Shaftesbury, gewachsen. [192] Palmerston übte sich im Alter von 55 Jahren weder in viktorianischer Sittsamkeit noch in evangelikaler Strenge, sondern er war ein typischer Vertreter der Regency-Zeit, ein unverbesserlicher Lebemann und Draufgänger, seiner erotischen Abenteuer wegen (über die er sich in seinem Tagebuch freimütig ausließ) als Lord Cupid und seiner Kanonenbootdiplomatie wegen als Lord Firebrand bekannt. Shaftesbury bemerkte einmal im Scherz, Palmerston könne »Mose nicht von Sir Sidney Smith unterscheiden«. Palmerstons Interesse an den Juden war rein pragmatischer Natur: Die Franzosen sicherten sich Einfluss, indem sie die Katholiken protegierten, die Russen, indem sie die Orthodoxen unterstützten, aber Protestanten gab es in Jerusalem kaum. Also sagte sich Palmerston, dass Großbritannien, wenn es den Einfluss der Franzosen und der Russen mindern und den eigenen mehren wollte, die Juden unterstützen müsse. Die zweite Mission – die Bekehrung der Juden – verdankte sich dem evangelikalen Eifer seines Schwiegersohns.
Shaftesbury war, 39 Jahre alt, mit lockigem Schopf und Backenbart, die Verkörperung des neuen viktorianischen England. Ein Aristokrat reinen Herzens, setzte er sich nicht nur unermüdlich für Arbeiter, Kinder und Irre ein, deren Leben er zu verbessern suchte, sondern er war darüber hinaus ein Fundamentalist, für den die Bibel »Gottes geschriebenes Wort« war, »von der allerersten bis zur allerletzten Silbe«. Das dynamische Christentum würde in seinen Augen eine weltweite moralische Renaissance herbeiführen und erreichen, dass die Menschen selbst besser wurden. In Großbritannien war die puritanische Utopie vom tausendjährigen Reich längst vom Rationalismus der Aufklärung verdrängt worden, nur unter den Dissenters war der Glaube daran noch verbreitet. Jetzt fand sie wieder Eingang in die Mitte der Gesellschaft: Die Französische Revolution mit ihrer Guillotine und die industrielle Revolution mit ihren Arbeitermassen hatten eine neue Mittelschicht hervorgebracht, die Frömmigkeit, Ehrbarkeit und die Bibel als Gegenentwurf zum ungezügelten Materialismus des viktorianischen Strebens nach Reichtum willkommen hieß.
Dass die 1808 gegründete Londoner Gesellschaft zur Förderung des Christentums unter den Juden, kurz Judengesellschaft genannt, jetzt regen Zuspruch fand, hatte sie zum Teil Shaftesbury zu verdanken. »Die jungen Leute heutzutage schwärmen alle für Religion«, beklagte sich Lord Melbourne, bei Victorias Thronbesteigung 1837 Premierminister von England und wie Palmerston ein echter Regency-Lebemann. In dem Glauben, dass die persönliche Begegnung mit Jesus und seiner frohen Botschaft (griechisch evangelion ) ewige Erlösung bringen würde, harrten die Evangelikalen seines zweiten Kommens. Wie zweihundert Jahre vor ihm die Puritaner war Shaftesbury überzeugt, dass nach der Heimkehr der Juden nach Jerusalem und ihrer Bekehrung zum Christentum
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