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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Er zügelte den Rappen am Ende des Strandes und lenkte das Tier auf den Schlängelpfad, der am Uferhang Civetots endete.
    Plötzlich überkam ihn wie eine Woge ein Gefühl der Sinnlosigkeit. Er zügelte den Wallach, stieg ab und nahm die Gebissstange aus dem Maul des Tieres, klopfte dessen Hals und sah zu, wie es friedlich zu weiden begann. Rutgar, der nur seinen Kittel und das Schwertgehänge trug, ging zum Spülsaum des Strandes und setzte sich auf einen feuchten Stein.
    »Was soll ich tun?«, murmelte er. »Was ist richtig, was ist falsch?«
    In seinen Lenden spürte er wohlige Schwäche. Chersala schien zu wissen, zu fürchten, dass ihre gemeinsame Zeit endete, und sie war nicht nur in den Nächten unersättlich und voll überströmender Liebe und Leidenschaft. Er vergaß, wenn er bei ihr lag, jeden Gedanken an Ragenarda. In der Trägheit der heißen Herbsttage schienen die hungernden Pilger in Civetot, der Angriff der Plünderer auf Nikaia, das bange Warten auf das Heer der Fürsten und Grafen und die Gefahr, die von den Seldschuken ausging, bedeutungslos zu werden. Ein Teil seiner Träume, in der Fremde eigenes Land und Untertanen zu besitzen und mit einer Frau über ein Lehen, auch wenn es so klein war wie Les-Baux, gebieten zu können bis ins hohe Alter hinein, hatte sich verflüchtet; wollte er zurück in die Provençe? Oder vorwärts nach Jerusalem? Oder wartete er darauf, dass ihn das Schicksal an einen ganz anderen Platz verschlug? Eines wusste er so genau, als habe Gott zu ihm gesprochen:
    »Ich will nicht als Krüppel enden. Weder hier noch andernorts. Wegen ruchloser Taten anderer werde ich nicht in der Hölle brennen. Vielleicht ist mir der Herr gnädig, wenn ich Werke vollbringe, die ihm wohlgefällig sind.«
    Aber welche? Wusste er mehr, würde er sinnvoll handeln können. Seine Bedeutung glich der eines jener Sandkörner, die er in der hohlen Hand aufschöpfte und durch die Finger rieseln ließ. Zu jung, um Weisheit erlangt zu haben, zu wenig gefestigt im Glauben, um flammenden Herzens in den Krieg zu ziehen, zu gering, um mit dem Schwert Heldentaten vollbringen zu können - was blieb ihm?
    »Nach Civetot«, murmelte er und fuhr mit den Fingerkuppen die Form einer Muschelschale nach. »Zu den anderen. Fragen, was sie wissen. Sie warnen, ihnen einen Fluchtweg zeigen. Auf Peter den Eremiten warten. Und unerkannt flüchten, wenn die Seldschuken kommen.«
    Er stand auf, ging zu seinem Pferd und zerrte es von den Grasbüscheln weg. Im langsamen Kantergalopp ritt er nach Civetot, trabte den Hang hinauf und durch das Tor und zu einer Gruppe aus Priestern und Rittern, die in hitzige Gespräche vertieft waren.
    Das Innere der Festung hatte sich abermals verändert: Es gab mehr aus Zweigen geflochtene Hütten zwischen den Zelten, breitere Lagerstraßen und kleine Plätze, auf denen Altäre standen. Als sich Rutgar innerhalb der Palisaden befand, genügten wenige Blicke, um ihm den Zustand der
    durcheinanderdrängenden Menschenmenge zu zeigen: Es herrschte helle Aufregung: Zwei seldschukische Bogenschützen waren in der Nähe des Lagers aufgegriffen worden.
    Sie berichteten, dass die furchtbaren Franken das schwach verteidigte Nikaia berannt, belagert, erstürmt und besetzt hatten; ihre Beute, sagten sie unter der Folter, sei unvorstellbar groß, und jeder Ritter oder Fußkämpfer sei schwer mit Gold behängt und fülle seine Taschen mit Edelsteinen, Geschmeide und Münzen. Mädchen und Frauen aller Stände gäben sich jauchzend den Siegern hin und hofften, unter Strömen des besten Weins, die Fremden würden die zukünftigen Herrscher des Landes sein.
    »Nach allem, was ich weiß und erlebt hab«, sagte Rutgar zu Gansbold, einem der treuen Priester Peters, »verabscheuen uns die Bewohner des Landes, und als Herrscher Nikaias hätten wir ein kurzes Leben! Das sagt auch Berenger, der Waräger, der den Weg bis Antiochia kennt. Die Gefangenen lügen. Sei es aus Furcht oder weil sie uns aus dem Lager locken wollen.«
    »Warte, Rutgar, bis wir mehr wissen.«
    »Ich warte.« Rutgar nickte und sah hinunter zum Strand. »Und ich zeige dir und deinen Mitbrüdern den letzten Weg, auf dem ihr euch retten könnt.«
    »Wir? Retten? Wovor?«
    »Vor den Seldschuken. Vor Kampf, Verstümmlung, Sklaverei, Mord und Tod«, sagte Rutgar mit einem Gefühl nahenden Unheils. »Ich erkläre dir den Weg zu einer Stelle am Ufer, an der die Schiffe des Basileus dich und uns alle retten können. Komm mit mir, und danach kannst du den

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