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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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sein.«
    »In sieben Tagen kann viel geschehen«, sagte Rutgar, wendete das Pferd und ritt zum Nordtor zurück. Er verbrachte die Stunden bis zum frühen Nachmittag damit, Fragen zu stellen; was der Heeresrat beschließen würde, dem alle Grafen und Ritter angehörten, erfuhr er nicht. Es schien, als würden die Ritter auf Kukupetros warten, denn sie hofften, er käme mit dem Heer der Fürsten aus Konstantinopel, auf den großen Schiffen des Basileus.
    Eine Stunde später lenkte Rutgar den Rappen auf dem Weg, den er hierhergeritten war, zur Festungsburg zurück. Er ritt zwischen den Mauern und unter den Torbögen hindurch, zum einzigen Teil des Bauwerks, in dem verstecktes menschliches Leben möglich war und wo Chersala und Berenger auf ihn warteten.
 
    Bei flackerndem Kerzenlicht, in der Schwärze der dritten Belagerungsnacht, leerte Ritter Rainald den Becher. Dies war, er wusste es mit der Genauigkeit eines Todgeweihten, der letzte Schluck Wasser in Xerigordon. Rainald war nahe daran, das Wasser aus Trotz und als Zeichen seines ungebrochenen Muts auszuspucken, aber dann schluckte er die abgestandene, laue Flüssigkeit hinunter.
    »Fortes Deus adiuvat!«, murmelte er. »Uns, den tapferen Streitern, wird Gott beistehen!«
    Der heiße Nachtwind war kaum mehr als ein Hauch. In Xerigordon bewegten sich Hunderte kleiner Lichter: Männer irrten umher auf der Suche nach Wasser und Wein. Andere, größere Feuer und die Fackeln der Seldschuken, die Xerigordon belagerten, ohne sich von der Stelle zu rühren, zeichneten einen großen Halbkreis in die Nacht; die Enden verschwanden zwischen Felsen und hinter Wäldern, wo weitere Teile des Heeres lagerten und sich auf einen Ausbruch der verzweifelten Franken vorbereitet hatten. Bisweilen hörten die Eingeschlossenen am Brunnen oder an der Quelle Wasser plätschern, und ihre Verzweiflung nahm zu. Über die Festung hatte sich eine unbewegte Haube schrecklichen Gestanks gestülpt, die das Atmen erschwerte und die Vögel vertrieben hatte. Fast sechstausend Männer, die sich seit dem Ende des Kampfes nicht hatten reinigen können, und zahlreiche Tiere litten alle quälenden Durst.
    Zuerst hatten die Dürstenden die Adern ihrer Pferde, Maultiere und Esel geöffnet und das Blut getrunken; zwei Dutzend Tiere waren inzwischen daran verendet. Viele Dutzende Männer hatten dort, wo das Erdreich feucht war, Gruben ausgeschaufelt und sich selbst sowie Tücher in die kühle, nasse Erde gelegt; später wrangen sie die Stofffetzen aus und fingen die Tropfen mit der Zunge und den Lippen auf. Die Zisterne, die sich während des letzten Regens gefüllt hatte, war längst wieder leer, die Wände und der Boden knochentrocken. Warf man Steinchen hinein, ertönten nur klappernde Geräusche und höhnische Echos. Viele Pilger schlugen ihr Wasser in Becher oder in die Hände ihrer Kampfgenossen ab, und sie tranken die heiße gelbe Brühe gemeinsam.
    Die Priester und Mönche, die ihre Waffen abgelegt hatten und ebenso vom Durst gequält wurden, irrten durch die von Fliegenschwärmen eingehüllte Menge und versuchten sie zu trösten; bald würden Ritter aus Civetot kommen, die Seldschuken in die Flucht jagen und den Weg zu Brunnen und Quelle freimachen.
    Ritter Rainald und seine Getreuen waren in dumpfes Grübeln verfallen. Die ausgetrockneten Körper wurden von Krämpfen heimgesucht; immer wieder packten Männer schreiend ihre Waden oder Arme und drückten sie, bis der stechende Schmerz verging. Sollten sie einen Ausfall wagen? Zum Feind überlaufen? Mit den Seldschuken verhandeln?
    Wieder verging eine furchtbare Nacht. Vor dem Morgengrauen fiel Tau, dessen Tröpfchen die Eingeschlossenen von den Blättern, Gräsern, von Hölzern und selbst von ihren Schilden leckten. Zuerst färbte sich der Himmel grau, und die Eingeschlossenen konnten ihr Elend sehen, ihre staubigen Bärte und schmutzigen Gesichter und den Schorf auf ihrer Haut. Dann zuckten die ersten Sonnenstrahlen über das Land. Schon jetzt verschwanden die blitzenden Tautröpfchen. Eine oder zwei Stunden später kamen grelles Licht und zunehmende Hitze aus dem Himmel und schienen den Kessel zwischen Xerigordons Mauern kochen zu wollen; ein stinkender Sud, in dem sich Vernunft, Geduld, Glaube, Hoffnung und Mut auflösten. Rabenvögel, Geier und andere Aasvögel erschienen und begannen, heiseres Geschrei ausstoßend, über Xerigordon zu kreisen. Nur der peinigende Durst blieb, und die Verzweiflung.
 
    Berenger glich einem reitenden Bogenschützen am

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