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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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meisten, und vielleicht hielten die Türken auch Jean-Rutgar auf den ersten Blick für einen der Ihren. Aber trotz ihrer Verkleidung würde niemand Chersala für einen türkischen Späherreiter halten. Sie trabte einen Steinwurf vor den beiden auf der Straße nach Nikaia. Zwei Bogenschüsse vor der Gabelung, von der aus der See und die turmbewehrten Mauern der Stadt zum ersten Mal zu sehen waren, hob sie den Arm und zügelte ihr Pferd.
    »Hinunter. In die Schlucht der tausend Säulen. So haben wir sie früher genannt, als Kinder.«
    »Wir und die Pferde - wir werden jeden einzelnen unserer Knochen brechen«, sagte Berenger und ritt an die Felsen heran, die den Weg säumten. Als Erster sah er den Sims, fasste die Zügel mit zwei Fingern und lenkte seinen Rappen mit Schenkeldruck von der Straße. Chersala folgte, Rutgar sicherte nach allen Seiten, ehe er sich an den Abstieg wagte. Der felsige Pfad, der sich in die Tiefe wand, war kaum breiter als drei, vier Ellen. Zwischen verkrüppelten Bäumen, den Resten eines Buschfeuers, breiten Vorhängen aus Dornenranken und Mooszöpfen ging es zwischen Krüppeleichen abwärts bis unter die dichten Kronen der Bäume. Schritt um Schritt wurde es stiller und dunkler. Auf dem Boden, den Wildschweine aufgewühlt hatten, lagen, als wären sie vor wenigen Tagen zerbrochen, viele Säulenstücke aus hellem Stein.
    Chersala ritt in Schlangenlinien um die Bruchstücke herum. Winzige Quellen gluckerten in der dunkelgrünen Finsternis. Es waren, sagte sich Rutgar, sicherlich nicht tausend Säulen, aber wie die steinernen Brücken, auf die er mehrere Male gestoßen war, schienen auch sie Zeugen einer längst vergangenen Zeit zu sein. Eine kleine Herde wilder Ziegen flüchtete zwischen das Unterholz und die Felsen. Schweigend folgte Rutgar und duckte sich unter den dicken Eichenästen.
    Der Boden der Schlucht stieg nach Süden leicht an; die Huftritte waren in der dicken Schicht aus Erde und moderndem Laub kaum zu hören. Ein paar Atemzüge lang schloss Rutgar die Augen. Er fühlte sich in der Dunkelheit einer Falle, umzingelt von einer unübersehbaren Übermacht gnadenlos kämpfender Türken, die im Sonnenlicht ritten. Die Beklemmung wich, als Chersala die Reiter auf einen Pfad führte und aus dem Sattel glitt.
    »Absteigen«, sagte sie leise. »In einer halben Stunde sehen wir Xerigordon.«
    Berenger und Rutgar schwangen sich aus den Sätteln und zogen die Pferde an den Zügeln hinter sich her. Der Pfad wendelte sich einen schmalen Hang hinauf. Ziegenkot lag verstreut auf dem sandigen Geröll und im vergilbten Gras, Herbstlaub raschelte im Dornengestrüpp. In sechzig, siebzig Tagen, dachte Rutgar, um Weihnachten herum, würde das Land in Schnee, Sturm und Kälte versunken sein. Das Ende des Pfades, auf der Kuppe eines der zahlreichen Hügel, verlief sich zwischen Felsen und windzerzausten Bäumen, die den Föhren der Provençe glichen. Die Reiter ließen die Pferde auf einer winzigen Lichtung stehen, und Chersala ging ihnen durch einen Felsspalt voraus.
    Die Luft war voll vom lauten Schnarren der Zikaden. Die Wurzeln der Bäume krallten sich in winzige Felsfugen. Vorsichtig hoben die Reiter ihre Köpfe über eine Barriere aus Felstrümmern und verwitterten Ästen. Vor ihnen, vielleicht eine halbe Stunde zu Fuß entfernt, sahen sie die Festung.
    Ähnlich wie Civetot war Xerigordon auf einem Hügel errichtet worden. Die alten, aus Quadern errichteten Mauern waren gut erhalten; aus den Fugen wuchsen kleine Büsche. Einige ehemals stattliche Türme und ein schmales Tor ließen erkennen, dass die Türken die Burg besetzt und instand gehalten hatten. Chersala deutete nach links und flüsterte:
    »Im Tal gibt es eine Quelle, die das ganze Jahr hindurch sprudelt. Den Brunnen seht ihr - dort, am Fuß der Mauer.«
    »Ich sehe es«, murmelte Rutger. Er sah aber auch, wie Berenger und Chersala, einen großen Teil des türkischen Heeres. Die Seldschuken hatten einen Ring um Xerigordon gezogen, machten aber keine Anstalt, die Festung zu berennen. Nach einer Weile sagte Berenger: »Sie haben die zwei mächtigsten Verbündeten, mit denen sie die Franken vernichten.«
    »Den Durst und die Zeit«, antwortete Rutgar. Berenger nickte.
    »Die Zeit und das Fehlen von selbst einem Tropfen Wasser«, bestätigte er und zeigte zum Himmel. Herbstwolken trieben durch das helle Blau des beginnenden Tages. »Nur ein langer Herbstregen könnte sie retten.«
    »Es wird keinen Regen geben«, sagte Chersala. »Heute nicht,

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