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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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hörten die Christen die Befehle des Anführers.
    »Packt sie! Entwaffnet sie. Macht sie zu Sklaven - der Sultan verkauft sie nach Aleppo, Antiochia und Khorassan!«
    Von allen Seiten drangen die Seldschuken auf die Pilger ein. Die Christen dachten nicht daran, sich zu wehren. Sie kämpften miteinander um einen Platz am Brunnen und tranken, schluckten, verschluckten sich, prusteten, gurgelten und husteten, tauchten die Köpfe ins Wasser und begriffen kaum, dass die Reise nach Jerusalem hier und jetzt endete; die Türken nahmen ihnen die Waffen und die wertvollen Stücke der Beute ab, fesselten sie und trieben sie in Sklavenpferche.
    Türkische Reiter sprengten schreiend, mit gespannten Bogen und geschwungenen Krummschwertern, zum Tor Xerigordons hinauf, ritten die Verteidiger nieder und töteten jeden Christen, den sie innerhalb der Mauern fanden. Waffenmeister Piero und ein Priester versuchten, voller Wunden und Blut, sich totzustellen; die Seldschuken entdeckten Piero, der dem Glauben abschwor und dadurch, anders als der Priester, der Axt des Scharfrichters, nicht aber der Sklaverei entging.
 
    Rutgar dachte daran, was er auf sein Pergament schreiben würde, wenn ... ja, wenn was? Wenn er in Civetot oder im fragwürdigen Schutz der Burg am Meer war. Vielleicht so:
 
    Aus dem Dorf Drakon, in vorwinterlicher Ruhe, schreibt Jean-Rutgar aus Les-Baux an Herrn Neidhart im Stift Sankt Marien zu Köln:
    Zu Beginn des Weinmonds A. D. 1096 oder nach dem seltsamen Kalender der rhomäischen Jahre im zweiten Mond des Jahres 6605: Der Befehlshaber der Deutschen, Ritter Rainald der Italiener, ist zum Feind geflüchtet, seinen Glauben verratend. Die Überlebenden aus der Burg Xerigordon wurden umgebracht, wenn sie nicht bereit waren, Gott zu verraten. Sie wehrten sich, aber der Feinde waren zu viele. Andere der sechstausend Christen, die lebendig gefasst worden waren, wurden wie Schafgetier unter die Feinde verteilt; die einen wurden als Zielscheiben aufgestellt und mit Pfeilen erschossen. Diese Männer waren die Ersten, die im Namen des Herrn Jesus das selige Martyrium erlitten, wie ihre Priester und Bischöfe uns beweisen wollten. Andere wurden verkauft oder wie Vieh verschenkt.
 
    Das Gemetzel dauerte einige Stunden und forderte nahezu dreitausend Opfer. Die Türken verzichteten darauf, die Toten genau zu zählen. Sie plünderten die Leichen aus und überließen sie den Raben, Geiern, Füchsen und Wölfen. Später, schrien sie lachend, wenn der Verwesungsgestank vergangen war, würden Arbeiter aus Nikaia die Festung wieder aufräumen.
    Bis auf eine kleine Besatzung sammelte sich das Heer der Türken, zog mit zweieinhalbtausend versklavten Christen nach Nikaia und brach von dort, ohne die Sklaven, neu verpflegt und mit neuen Befehlen, nach Norden, Richtung Civetot auf.
 
    »Es ist vorbei«, sagte Berenger und betrachtete nachdenklich den Mond, der wie eine zerbrochene Silbermünze in der Dämmerung hing. »Es ist zu spät zum Reiten.«
    »Und wir werden kein Feuer machen«, sagte Chersala. »Gehen wir zu den Pferden.« Sie zogen sich auf die Lichtung zurück, tränkten die Tiere aus den Wassersäcken und teilten sich den kargen Proviant. Nicht viel später holte Berenger Zunder und Feuerstein und zündete einen Kerzenstummel an, der ruhig in einer Felsnische brannte. Als das Morgenlicht es zuließ, sattelten sie die Pferde und ritten zurück; Berenger trabte nach Civetot, Chersala und Rutgar ritten zur Felsenburg der Fischer.
 
    Es geschah etwas Geheimnisvolles im Land zwischen der Küste und Nikaia. Rutgar hoffte, dass er die winzigen Zeichen richtig deutete. Die mörderischen Ereignisse bedurften keiner Deutung: Ein großer Teil aller wehrfähigen Männer war schwer verwundet und starb, war getötet oder versklavt worden. Rutgar nahm die Hände von Chersalas Brüsten und richtete sich auf. Über seinem Kopf zuckten Fledermäuse durch das Gemäuer, das in der nächtlichen Kühle knackte. In der Ferne schrie ein Käuzchen ohne Unterlass.
    »Ich weiß, dass unsere unbeschwerte Zeit bald enden muss«, sagte er leise. »Aber ich kenne den Tag nicht, an dem wir uns trennen werden.«
    In den Ritzen einiger Quader steckten brennende Kienspäne. Ihre Flämmchen verbreiteten in dem windgeschützten Winkel des Unterschlupfs kärgliche Helligkeit. Gestern waren aus Drakon ein Dutzend Männer mit Wein und Verpflegung gekommen und hatten die Vorräte an getrocknetem und eingesalzenem Fisch abgeholt; ein Teil davon würde als Zehent an

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