Jerusalem
hoch erhobene Kreuz entgegen, schlurfte auf den Hauptaltar zu, das Holzkreuz wie eine Lanze mit sich führend, bohrte seine brennenden Blicke in jedes Augenpaar und zwang selbst d'Arbrissel auf der Kanzel in seinen Bann.
Ritter, Würdenträger, einige Priester, die zweihundert Sänger der Mönchschöre, einer nach dem anderen beugten sie, zögernd und unsicher, aber überwältigt von der Gewalt des Augenblicks und von den verstörenden Rufen der vielleicht fünfhundert dahingestreckten Elendsgestalten das Knie. Von Wanderpredigern hatte jeder Anwesende gehört - jetzt erlebten sie die Stimme Gottes aus dem schiefen Mund eines Unbekannten. Seine Hässlichkeit und erkennbare Bedürfnislosigkeit beschämte und demütigte sie, ohne dass sie es sich bewusst waren.
Zuletzt sanken auch die Priester, die Mönche und der Erzabt auf die Knie. Hugo hob den Arm und gab Robert d'Arbrissel einen Wink.
»Lasst ihn auf die Kanzel, Robert!«, rief er.
Peter von Amiens schüttelte den Kopf. Er senkte das Kreuz, das auf seltsame Weise eine strahlendere Farbe anzunehmen schien, und umrundete den Chor, scheinbar leichtfüßig über die hingestreckten Körper springend. Aus seinem Mund kamen unverständliche, grummelnde Sprüche oder Gebete. Vor dem Altar verneigte er sich tief, drehte sich um und ging entschlossen in die Richtung des Portals. Jenseits der Öffnung, weit am grauen Horizont, wetterleuchtete es; Regenschauer stoben in die Kirche hinein. Zwischen all den Stöhnenden und Zuckenden erreichte Peter das Kirchenportal, blieb ungerührt im Regen stehen und rief:
»Gott will, dass ihr mir folgt! Alle! Bis zu den Toren der Heiligen Stadt! Deus lo vult!«
Er wandte sich ab und schritt bis zu den Stufen des Portals. Irgendwo schrie jämmerlich ein Esel. Eine Gestalt nach der anderen kam auf die Beine und folgte ihm, als er im fauchenden Frühlingswind und in schrägen Schauern schwarzer Wassertropfen Stufe um Stufe abwärtsstieg. Alle, die mit ihm gekommen waren und so manch einer, der bisher in den Bänken gekniet hatte, folgten ihm. Schweigend, kreidebleich und mit weichen Knien tappte Robert d'Arbrissel, dessen Herz wie eine Trommel schlug, die Stufen der Kanzel hinunter.
Der Jubel über die gute Ernte war bedeutungslos geworden. In zuckendes Licht von tausend unterarmlangen Wachskerzen getaucht, standen einige Hundert Mönche, Priester, Ritter und Würdenträger starr da und schwiegen. Das Summen des Windes fing sich stöhnend zwischen den Säulen und unter dem Dachgewölbe, und mit jedem Windstoß, der den Gestank eines wahr gewordenen Albtraums aus der Abteikirche sog, schloss sich ein Einzelner oder eine Gruppe dem Zug des Peter von Amiens an; einer von vielen, die noch vor einer Stunde jeden Gedanken an ein solches Tun weit von sich gewiesen hätten.
Abt Hugo sagte leise, als habe er einen inneren Kampf verloren: »Wir haben nicht bedacht, dass das einfache Volk nicht anders fühlt als wir und die Fürsten. Es wird wie ein großer, gar seltsamer Aderlass sein.«
D'Arbrissel nickte schwer. »Aderlässe helfen der Genesung. Der Herr will offenbar, dass sich Pferdeknechte und Novizen, Witwen und Kräuterkundige, Knappen und Eierdiebe jenem Mönch anschließen. Dass ihm arme Fürstensöhne bedingungslos folgen, dass gewissenlose Ritter ihre Stunde gekommen sehen und durch die Pilgerfahrt dem Fegefeuer und der Hölle zu entkommen versuchen.«
Oder der Willkür ihrer Lehnsherren und den nicht minder erbarmungslosen weltlichen Strafen für ihre Sünden, dachte Abt Hugo und wusste, dass aus vielen kleinen Tropfen ein reißender Fluss entstand; ein Menschenfluss, eine Sintflut armer Sünder, eine waffenlose Armee der Armen, die auch Gottes Wort nicht aufhalten konnte.
Hugo blickte hilfesuchend in das Gesicht des Herrn hoch an der Chorwand. Je größer das Elend der Zeit, dachte er, desto mehr Glanz braucht es, um es auszuhalten. Remy d'Aretin nickte schwer.
»Sie ahnen nicht, jene armen Kinder Gottes, dass sie verführt sind«, sagte er mit gebrochener Stimme. »Aber sie sind glücklich in ihrer Verführtheit. Der Herr schütze sie.«
»In Ewigkeit, Amen.«
Jean-Rutgar schloss die Augen, lehnte sich gegen einen Gerüstbalken und versuchte zu verstehen, was er erlebt hatte. Ohne Zweifel: Die Armen und Elenden hatten die Vermögenden, die Fürsten und geistlichen Herren zum Aufbruch ins Heilige Land gedrängt. Die ausweglose Tiefe des Erlebnisses erschütterte Jean-Rutgar ebenso wie die erste Liebesnacht mit Ragenarda.
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