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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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zusammengefunden hatten und einander gehörten. Dieses Tasten und Festhalten, bis der Schlaf sie löste, geschahen ohne Absicht, ohne Willen. Sein Herz, wusste Rutgar mit unumstößlicher Gewissheit, würde brechen, wenn diese Inniglichkeit aufhörte.
    Aber jenseits des sanften Gebens und Nehmens gab es die andere Welt, die Straße nach Civetot, Nikaia und Antiochia. Und in dieser Welt war die Sanftheit Chersalas verschwunden; sie wandelte sich zu einem Wesen, das sich emsig und störrisch darauf vorbereitete, wie ein Ritter zu kämpfen, zu lernen, wie Waffen zu gebrauchen waren, wie sie verletzen und töten konnten. Manches übte sie, um sich selbst schützen zu können, anderes ahmte sie ihm nach.
    Er konnte es ihr nicht ausreden und dachte, dass es besser sei, wenn sie sich nicht schutzlos aus der fragwürdigen Geborgenheit ihres Dörfchens hinausbegab; auch Chersalas Zukunft lag in der Hand des Herrn. So arbeitete er ruhig weiter, bis ihn abends die Müdigkeit übermannte und der Schlaf sich wie eine Decke lautlosen Schneefalls dämpfend und schlichtend auf seine Gedanken legte.
 
    Chersala und er übten mit dem Bogen und den Pfeilen, die Berenger den toten Seldschuken abgenommen hatte. An manchen Abenden, wenn er nicht zu müde war, pflegte er seine Waffen, besserte den Sattel aus und wickelte endlich das Zaumzeug und die silbernen Sporen aus, das Geschenk aus dem kaiserlichen Palast. Die Pferde standen wohlgenährt und gut gepflegt in Gautmars Stall. Nur manchmal schirrte Rutgar die Tiere ein, um Baumstämme aus dem Wald ins Dorf zu ziehen.
    Zwei Mal, nachdem der erste Schnee weggetaut war, ritten er und Chersala zur Schlucht des Drakon-Passes und starrten fassungslos die lang gezogenen Haufen der Knochen, Schädel und Skelette an; nur noch wenige Fetzen Stoff hingen an den Gebeinen.
 
    Rutgar hätte die Tage falsch gezählt, aber der Priester und Gautmar kannten auch den Neujahrestag des Kalenders, nach dem die rhomäischen Christen rechneten. Das neue Jahr kam, während die Stürme über Drakon hinwegfegten und lange Schneewehen zwischen den Häusern auftürmten. In einem solchen Wetter würde kein Schiff das Meer überqueren, und kein Ritterheer würde an Land gehen.
    Rinde, Holzkloben, armlange Äste und Zapfen waren stundenlang in einem mächtigen Feuer verbrannt. Jetzt, um Mitternacht, lag ein großer Haufen Glut auf der Feuerstelle, der sich an den Rändern dunkelrot und grau färbte. Der Wohnraum war bis in den hintersten Winkel und bis unter das Dach wohlig warm. Rutgar wachte auf, schob das Leinen und die Felldecke zurück und richtete sich auf. Nach vielen Nächten, in denen er tief und traumlos geschlafen hatte, war er von einem Traum geweckt worden.
    Er erinnerte sich, von Thybold geträumt zu haben, seinem blauäugigen, scharfnasigen Halbbruder mit den gleichen blauen Augen wie Berenger. Im Traum waren beide Männer miteinander verschmolzen, einmal war es der eine, der sich einem Ritterheer in der Provençe angeschlossen hatte, einmal hatte er den anderen hoch zu Ross in Rüstung und Waffen gesehen. So wartete Rutgar halb im Traum also auf beide, im Fauchen des Windes und im Knacken der trocknenden Balken. Der Glaube Peters des Eremiten mag aus solchen Träumen gespeist werden, dachte Rutgar, und er fragte sich, ob die Traumbilder eine Wirklichkeit spiegelten, wie sie andernorts galt. Indes, warum sollte Thybold nicht entschlossen sein, sich einem Grafen aus Südfrankreich anzuschließen?
    Rutgar stand auf und tappte nackt zum Tisch, füllte den Becher mit gemischtem Wein und warf eine Handvoll Hackspäne in die Glut. Sie flammten auf und tauchten den Raum in flackernde Helligkeit.
    Er setzte sich aufs Bett, trank und betrachtete die schlafende Chersala. In den wenigen Monden, seit sie ihn zum ersten Mal verführt hatte, schienen ihr Aussehen und ihr Inneres eine Veränderung erfahren zu haben, die zumindest ihm aufgefallen war. Dass sie ihr Haar um drei Handbreit abgeschnitten hatte, hielt er nicht für einen Beweis eines Wechsels oder einer neuen Sicherheit. Aber ihr schmales Gesicht zeigte nun deutlicher ihren starken Willen und ihre Entschlusskraft. Sie war schöner geworden. Wie Ragenarda kannte auch sie das Geheimnis, nicht schwanger zu werden; sie wich aus, wenn er sie fragte. Nur an den Tagen ihrer Blutung schlief sie im Haus ihres Vaters, alle anderen Nächte teilte sie mit Rutgar. Er hatte begonnen, sie schreiben und lesen zu lehren, und sie begriff mit erstaunlicher Schnelligkeit.

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