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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Alles war anders als damals: Er war älter geworden; sie war jünger als Ragenarda damals gewesen war. Aber er würde den gleichen herzzerreißenden Schmerz spüren, wenn er sie verlassen musste. Sie war zur Vertrauten geworden, zur liebenden Frau - aber war dieses einzigartige Gefühl, wenn er sie ansah und ihren heißen Körper in den Armen hielt, Liebe?
    Auf diesen Augenblick des Wissens, der plötzlichen Erkenntnis, wartete er. So wie er auf Berenger und das Ritterheer wartete. Und vielleicht auf Thybold. Er trank den Wein, trug den Becher zurück, streckte sich aus und schob seinen Arm unter Chersalas Kopf. Die Flammen aus den Axtspänen wurden kleiner, die Schatten, die ihn schaudern ließen, hörten mit ihrem Tanz auf.
 
    An einem der Abende, als wieder der Schneesturm in anschwellenden Stößen um die Mauern winselte und Funken aus der Feuerstelle durch den Kaminschacht in die Nacht hinausgewirbelt wurden, verdünnte Rutgar die Tinte, spitzte die Feder an und begann zu schreiben.
 
    Im Hornung, Anno Domini 1097 schreibt Jean-Rutgar an Herrn Neidhart zu Köln:
    Noch bevor der Schnee zum zweiten Mal fiel, denn der erste ist rasch geschmolzen, kamen manche Bewohner Drakons und aus jenen Dörfern, die von den Rittern geplündert und verwüstet worden waren, mit Pferden, Eseln und Karren. Sie sammelten in den unvorstellbar großen Haufen Gerippen, einem Berg von abschreckender Oberfläche, in der Schlucht des Drakonflusses bis zum Pass, die Schädel und Knochen, von denen alles Fleisch verschwunden war. Aus Lehm und Sand und eben diesen Knochen bauten sie um ihre Felder hohe Mauern wie um eine Stadt. Ihrer dreißigtausend waren es in Köln, und dreitausend von ihnen haben ihr Leben behalten. Ich war dort und weiß, dass jene sonnengebleichten Knochen noch viele Jahre dort liegen werden, zum Schrecken der Grenzlandbewohner. Es sind zu viele. Ein wahrlich großes Zeugnis von Kukupetros' Zug nach Jerusalem. Deus lo vult! Selig, die im Herrn sterben.
 
    Während eines Nachmittags, als er halbnackt und schweißüberströmt mit Gautmars schwerer Axt aus einem Baumstamm einen Balken zurechtschlug, traf ihn wie ein Blitz eine Erkenntnis. Er schlug die Klinge tief ins Holz und stützte sich keuchend auf den Stiel. Hier, in dem kleinen Dorf, fühlte er sich zufrieden und sicher, obwohl er nicht lange bleiben würde. Warum?
    Es war in Wirklichkeit die wachsende Angst gewesen, die ihn inmitten der riesigen Zahl der Pilger gefangen gehalten hatte, für ihn nicht erkennbar, aber von Woche zu Woche deutlicher hervortretend. Angst oder auch unbestimmbare Furcht, weder der einen noch der anderen Gruppe anzugehören, weder den Frommen noch den Gepanzerten, weder denen, die inbrünstig sangen, beteten, Messen feierten, beichteten oder die Beichten abnahmen, noch den Männern, die im Zeichen des Kreuzes schutzlose Menschen bedrohten, angriffen und töteten. Hier in Drakon herrschte Klarheit, hier galt nicht mehr die Zauberkraft der Worte des Eremiten, die Bilder vom Zorn und der Güte Gottes erschufen; Rutgar war ein fremder Mann, der arbeiten und kämpfen konnte und das Wohlwollen des Schmiedes und des Priesters besaß. Obwohl man ihn beobachtete, fühlte er, dass er eine Antwort auf viele Fragen gefunden hatte: Er war frei.
    Das Leben, das Schicksal und Gottes unerforschlicher Wille würden ihn weiterhin fordern. Aber er war, sagte er sich und zerrte am Axtstiel, kein Diener oder Leibeigener von jemandem, sondern trug nur für sich Verantwortung.
    »Und für Chersala«, murmelte er und holte weit aus. Er summte vergnügt, als er die Schneide in den Stamm trieb. Große Hackspäne flogen nach allen Seiten, der Stamm dröhnte wie eine Kriegstrommel.
 
    Eine Stunde lang hatten sie die Pferde ohne Sattel, nur mit einer Satteldecke, in der Kälte geritten. Durch die Schneewolken leuchtete ein kleiner, matter Sonnenkreis. Jeder Atemzug dampfte, die Kälte begann durch die Pelze zu beißen. Am Rand des Dorfes, an einem der schmalen Mauerdurchgänge, hielt Rutgar den Rappen an und sagte mit kältestarren Lippen:
    »Das war lange genug. Zurück in den warmen Stall!«
    Die Pferde schüttelten sich unwillig, aber gehorchten dem Zügel. Aus dem Augenwinkel sah Rutgar zwischen den Mauern aus Knochen, Lehm und Feldsteinen, die dick von Eis bedeckt und voller Eiszapfen waren, einen Reiter auf einem Rappen mit einem schwerbeladenen Saumpferd. Der Wind wehte eine spiralige Schneewolke in die Höhe und auf den Ankömmling zu, machte ihn für

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