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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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verschmelzen. Von überall her erscholl seltsamer Lärm, der von den steinernen Flächen zurückprallte. Es roch nach tausenderlei Dingen, nach gerinnendem Blut, Lauch und kaltem Schweiß, nach Kot, Pisse und dem weißlichen Schwamm auf den Quadern. Brandpfeile sirrten, grell wie Sternsplitter, durch den Himmel, dessen Tiefblau sich schwärzte. Verwundete und Sterbende schrien, von anderen Stellen ertönten Gebete und Gesang. Berenger ritt heran, eine lodernde Fackel in der Hand.
    »Zum Lager, ihr zwei«, sagte er und ritt ihnen voraus. Er schien von dem, was ihn umgab, nicht beeindruckt zu sein, obwohl er alles sah. Verwirrt gestand sich Rutgar, dass er seinen Freund zu bewundern begann; daran, ob er ihn jemals richtig zu verstehen vermochte, wagte er nicht zu glauben. Berenger schwenkte die Fackel und rief: »Die blutigen Wunder der Belagerung siehst du morgen deutlicher, Ritterlein!«
    Die Geschäftigkeit des Lagers, tausend fremde Gesichter und, als ihnen Berenger jenseits der Palisaden durch eine Lagergasse vorausritt, das plötzliche Gefühl, eine Insel unsicherer Friedlichkeit zu betreten, verwischten die Bilder hinter Rutgar und Chersala.
 
    Zwei Bogenschuss weit, vielleicht vierhundert Schritte entfernt, wuchteten sich die Mauern und Türme, von Rauch umwallt, vierzig, fünfzig Ellen hoch in die dunklen Wolken. Die Morgensonne war noch nicht über die Hügel gekrochen. Der Platz zwischen dem nächsten Lager und dem Fuß der mächtigen Quader, bedeckt von kümmerlichem Gras und dürren Büschen, von Räderspuren und tief eingetretenen Pfaden gefurcht, war menschenleer; in vielen Quaderritzen wuchsen, wie Vogelnester oder Mistelbüschel, schwarzgrüne Pflanzen, in denen Schmutzfäden baumelten. Graue und schwarze Regen- und Dreckspuren zeichneten im Licht des späten Morgens lange Linien in den Stein. An manchen Stellen sah Rutgar gemeißelte Rundbögen, winzige Fenster und Tränenlöcher, aus denen braune Tropfen fielen.
    Er hielt sich gähnend an den Spannseilen des Zelteingangs fest und betrachtete Berengers schmutziges, verschwitztes Gesicht. Der Dreißigjährige, einst als Knabe aus dem normannischen Britannien verbannt, hockte breitbeinig auf einem Schemel und ölte seine Stiefel. An einem Holzgestell vor dem Zelt hingen Kettenhemden, Waffen, Schilde und Helme. Eine gespannte Leinwand schützte sie vor Regen und Sonne. Die Pferde standen gestriegelt und versorgt bei den Tieren der Butumites-Söldner im Schatten und fraßen Heu.
    Die Byzantiner lagerten jetzt schon seit einem Mond unter den Mauern Nikaias. Kaiser Alexios hatte General Manuel Butumites, den Vorgesetzten Berengers, mit Fuhrwerken, Katabolē -Belagerungsgerät und ausgebildeten Mauersturm-Kriegern, die sich »Engingneure«, also »Geräte-Erbauer«, nannten, zur Unterstützung des ersten fränkischen Heeres mitgeschickt.
    Zwar gab es in der Nähe der Zelte, der Wagen und der Belagerungsgeräte kaum Lärm oder Geschrei, aber die vielen Tausende brachten vor den Toren Nikaias ein ständiges Geräuschgemenge hervor, das nur in den Nächten leiser war.
    »Sie warten alle auf den nächsten Angriff des Sultans«, sagte Berenger, als wäre es ihm gleichgültig. »Die Mauern werden sie wohl nicht stürmen können, in diesem Durcheinander. Proviant wird knapp. Gottlob ist genug Futter für Pferde und das andere Getier da.«
    »Es scheinen viele Seldschuken in der Stadt zu sein«, sagte Rutgar und hob den Kopf. Seit drei Tagen arbeitete und schlief er im Süden der Stadt. Der nächste wuchtige Belagerungsturm, zweihundert Schritte rechter Hand, wuchs Elle um Elle seiner Vollendung entgegen. »Man hat sich, wir draußen und die in der Stadt, hab ich gehört, auf eine lange Belagerung eingerichtet.«
    »Das sagt auch Butumites. Allein schon wegen der Sultanin, der Emire und des Goldschatzes.«
    Die Franken wussten, dass der Sultan in den Bergen lauerte. Als sich die Truppen Arslans zum ersten Mal mit schweren Verlusten zurückgezogen hatten, hatte der Befehlshaber den rhomäischen General in die Stadt eingeladen, um die Bedingungen der kampflosen Übergabe zu besprechen. Aber als bekannt wurde, dass Kilidsch Arslan mit seinem gesamten vielköpfigen Heer herannahte, brachen die Seldschuken die Verhandlungen ab. Am 21. Tag des Weidemonds schlugen die Franken mit Hilfe Bischof Adhemars einen Angriff blutig zurück; der Sultan, der sich nachts mit schweren Verlusten geschlagen geben musste, hatte nicht mit der Entschlossenheit und der Kampfesstärke seiner

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