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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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immer. Zu seinem Erstaunen, fast Entsetzen, hatte Rutgar den Ritter Wilhelm von Melun, den »Zimmermann«, wiedererkannt, ebenso weitere Ritter aus den letzten Wochen von Peters Pilgerzug wie Clarambald von Vendeuil und Thomas von La Fére. So viele Tausend Gesichter - er würde noch viele Fragen stellen müssen.
    Mit seinem Dolch, etwas Öl und heißem Wasser schabte Rutgar seinen Bart und reinigte sich, so gut es ging, in der Nähe des Feuers. Peter von Amiens, die Reise von Köln nach Konstantinopel, die Hitzewanderung von Nikomedia bis Civetot - dies alles schien in einem früheren Leben stattgefunden zu haben. Er spürte kein Bedürfnis, den Eremiten in der Masse der Heere zu suchen und mit ihm zu reden. Vielleicht in ein paar Tagen. Vielleicht war Thybold auf dem Weg aus der Provençe bis Nikaia umgekehrt, krank geworden ... umgekommen ... Nein! Eine innere Stimme befahl Rutgar, nicht daran zu denken, dass sein Halbbruder tot sein könnte.
    Wieder wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als fast gleichzeitig zwei Ballisten krachten und Holztrümmer, groß wie Firstbalken, mit eisengeschmiedeten Spitzen versehen, in flachem Bogen über die Mauern schleuderten. Er wrang die Tücher aus, ging zum Zelt und hängte sie an das Spannseil, umarmte schweigend Chersala und zog sie mit sich, zu den Pferden und zum Sattelplatz; er zwang sich dazu, daran zu denken, wie sie in der Umgebung der Stadt, was immer geschah, überleben konnten: er, Chersala, Berenger und, vielleicht, Thybold.
 
    Am Hang eines niedrigen Hügels abseits vom Lager des Generals, unter den weit spreizenden Ästen großer Bäume, deren Namen weder Berenger noch Rutgar kannten, war das halb offene Beratungszelt aufgeschlagen worden. Der kaiserliche Befehlshaber Butumites, sein Schreiber Arkadios und die Unterführer des Generals erwarteten die fränkischen Fürsten zur Beratung. Berenger, der von Butumides seine Befehle erhalten hatte, trabte hinter den Palisaden des Lagers zur Straße hinunter und winkte seinen Reitern und Rutgar. Sie ritten nach Süden, zu den Hügeln und den Wäldern, in die sich - so hatte man es von Hirten und Jägern erfahren - der Sultan und seine Krieger nach der Schlacht um Nikaia geflüchtet hatten.
    Die Pferde Rutgars, Chersalas, Berengers an der Spitze und eines Dutzends romanischer Reiter, Untergebenen des Generals, fielen aus dem Galopp in Trab und ein Dutzend Atemzüge später in Schritt. Die Gruppe war in voller Bewaffnung vom Lager aus aufgebrochen und zunächst am Ufer des Askanischen Sees entlanggeritten. Auf der Seeseite, hinter dem Gürtel gilbenden Schilfs, boten die Mauern Nikaias einen anderen Anblick als auf der hügeligen Landseite. Hier war kaum mehr zu sehen als ein mächtiger Torturm und einige kieloben verrottende Fischerboote.
    Eine seltsame Frage flirrte durch Rutgars Kopf: Jerusalem, Ziel der vielen Tausenden: War jene Stadt so prächtig und groß wie das strahlende, goldstrotzende Konstantinopel? Kleiner oder größer als Nikaia? Mit höheren Mauern? Oder wie das heilige Köln, nur anders, weil in einem anderen Land?
    »Während die Fürsten und unserer Anführer beraten«, rief Berenger, hob den Arm und vollführte mit den Fingern im ledernen Handschuh trillernde Bewegungen, »lassen wir unsere Blicke schweifen und suchen die Krieger des Sultans! Vergesst nicht, die Franken, unter denen wir auch ehrliche Kämpfer finden werden, sind dem Basileus verpflichtet - aber viele der Herren glauben nicht so recht daran. Das darf nicht unsere Sorge sein; wir warnen den General, die Fremden, die rhomäischen Bewohner der Stadt und unsere Freunde.« Er setzte sich im Sattel zurecht und prüfte den Knoten, mit dem der Schild am Sattelknauf festgebunden war. »Die Freunde, die mit uns an der Seite der Franken kämpfen. Du, ihr zwei - dorthinüber. In der Dämmerung zurück im Lager. Ich, Cherso und Rutgar, ihr fünf - wir reiten zu den Bergen. Und ihr sieben ... nach Sonnenuntergang.«
    Cherso, das war der Name, auf den sie sich für Chersala geeinigt hatten. Zwar mochten die einen oder anderen der Waräger Vermutungen über Chersalas wahres Geschlecht haben, aber wenn sie es taten, behielten sie es für sich, und Rutgar und Berenger hielten es für besser, die Sache im Ungewissen zu belassen.
    Die Gruppe trennte sich. Jenseits des Schilfs und des erkennbar flachen Wassers der Lagune ragten unvermittelt und bestürzend machtvoll die Mauern der Seeseite Nikaias auf. Weißliche, schwärzliche, tiefgrüne und

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