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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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gepanzerten Gegner und deren geschliffenen Lanzenspitzen gerechnet. Aber der Angriff hatte die Franken viele Verletzte und etliche Tote gekostet. Unentwegt schafften Boote und kleine Schiffe Proviant und Ausrüstung über den See und die Lagune herbei.
    Rutgar wischte den Schweiß von seiner Stirn und deutete auf eine Schleuder, deren Wurfarm gespannt wurde. Berenger folgte Rutgars Blicken. Sie sahen, wie Waffenknechte ein Dutzend abgeschlagener Köpfe in den Lederkorb schichteten.
    »Einige der Herren langweilen sich«, sagte Berenger anscheinend gleichmütig. »Die anderen wollen den Gonates-Turm umwerfen.«
    Der Gonates-Turm nahe des Südtors wurde von den Provençalen Adhemars von Le Puy und Graf Raimunds im Schutz eines Balkendaches untergraben. Links von Adhemars Zelten landeten Boote des Kaisers Nahrungsmittel und Wein für die Belagerer an. Zwischen dem See und den Lagern der Christen fuhren zu jeder Stunde des Tages Karren hin und her und luden Fässer voll Frischwasser ab. Berenger hängte gerade die Stiefel über ein Spannseil und betrachtete seine schlammbedeckten Füße, als der Schleuderarm in die Höhe schnellte und die Steingewichte der Ballisten schwer krachend anschlugen.
    Die Köpfe der gefallenen Seldschuken flogen wie ein Schwarm fetter Krähen steil in die Höhe und über die Mauerkrone, die an dieser Stelle höher als fünfzig Ellen war. In schweigendem Entsetzen sah Rutgar dem Flug der seltsamen Geschosse zu, die bräunlich wässerige Tropfen umherspritzten. Sie verschwanden jenseits der Mauer; die Kriegsknechte an der Schleuder stimmten lautes Gelächter und Geschrei an. Aus der Stadt erscholl trillerndes Wutgeheul. Deus lo vult? Rutgar fragte sich, was er empfinden würde, wenn Chersala und Schmied Gautmar in dieser Stadt lebten. Er war erleichtert, dass Chersala im Zelt schlief, das sie beide mit Berenger und einem jungen Seilschläger teilten.
    »Langeweile!«, murmelte er und schluckte. Der Geschmack würgte seinen Gaumen. »Sie schleudern Köpfe und Körper hin und her, als wären es Bälle. Ein grausiges Spiel, Berenger.«
    »Nur weil du's nicht kennst, Ritterlein«, antwortete Berenger, als wäre es eine Erklärung. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. »Morgen, vor Mittag, schickt uns Butumites ins Land hinaus. Als Späher.«
    »Einverstanden«, sagte Rutgar. »Wir essen sein Brot, trinken seinen Wein und reiten für ihn.«
    »Besser, als vor den Mauern zu verrecken.«
    Chersala tappte in die Helligkeit, hielt gähnend die Hand vor die Augen und stieß gegen eine Zeltstange. Sie versteckte ihre weiblichen Rundungen unter einem langen, brandnarbigen Wams aus dickem Leder, das sie einem Schmied aus dem Tross abgekauft hatte. Berenger begrüßte sie mit Kopfnicken und einem breiten Grinsen. Rutgar blickte in ihre verschlafenen, goldbraunen Augen, lächelte und erkannte, dass ihre Blicke einen Atemzug später über seine Schulter zuckten und sich auf etwas hefteten, das vor dem Tor geschah.
    Steine, Felsbrocken, zersplitterte Balken und abgebrochene Lanzen waren mannshoch von der Turmmauer zum nächsten Vorsprung geschichtet und aufgetürmt. Die Belagerer fürchteten einen Ausbruch der seldschukischen Besatzung, dachte Rutgar. Und sie schaffen es nicht, die Tore aufzubrechen. Allein von seinem Platz aus sah er drei Dutzend Stellen, an denen die Christen die Mauern zu stürmen versuchten.
    Die christlichen Truppen umgaben Nikaias Befestigungen in der Form eines zerbrochenen Hufeisens, und viele Tausend Männer wimmelten mit Leitern, Waffen und allen Arten von Werkzeug in diesem lebenden Wall. Jede größere Gruppe schien für sich zu handeln und zu schuften; anscheinend gab es kein zentral organisiertes Vorgehen. Ein Brandpfeil pfiff funkensprühend und mit langer Rauchspur von der Mauerkrone durch die Luft und blieb siebzig Schritt vor ihrem Zelt im Boden stecken. Irgendwo schrie jämmerlich ein Tier; Köche und Küchenhelfer rannten mit blitzenden Messern durch die Lagergasse.
    Rutgars Bart, in dem trocknender Schweiß sich mit Staub und Schmutz vermischt hatte, begann widerwärtig zu jucken. Er nickte Chersala und Berenger zu und schleppte einen vollen Kessel zum nächsten Feuer, hängte ihn in die Ketten des Dreifußes und wartete. Inmitten der Bewaffneten fühlte sich Rutgar zwar fremd, aber sicher im Schutz der erfahrenen kaiserlichen Söldner. Bisher hatte er vergeblich in Hunderte fremder Gesichter gestarrt; Thybold mit den strahlend blauen Augen und der Falkennase suchte er noch

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