Jerusalem
»Nehmt einen Schluck Wein und setzt Euch bequem.«
Der Graf von Toulouse und Saint-Gilles erschien als Letzter des Quadrumvirats. Über der Höhle des fehlenden Auges trug er eine silberne Platte, in der Sonnenlicht und Schatten spiegelnd wechselten. Ihm folgte der Bischof Adhemar von Monteil, der seinen Chronisten Raimund, den Kaplan von Aguilers, mitgebracht hatte. Der Mönch Guibert von Nogent, aus einem halbvergessenen Ort namens Flay, nickte ihm mit ausdrucksloser Miene zu. Rutgar glaubte, in den Zügen und im Gebaren Guiberts einen kühlen, klugen Abstand zu allzu tiefem Glauben und christlicher Besessenheit zu erkennen. Er schloss die Augen halb und beobachtete Raimund de Agulilers und Guibert ebenso aufmerksam wie deren fürstliche und bischöfliche Herren.
Butumites, der die Uneinigkeit der Fürsten allzu gut kannte, hatte ein Dutzend Platten auf Böcke dergestalt aufstellen lassen, dass sie einen runden Tisch bildeten, an dem sich keiner der Sitzenden benachteiligt fühlen konnte. Weiße Tücher mit goldgestickten Borten hingen bis zum Bretterboden.
Er blieb im Eingang stehen und wartete, bis die Heerführer, silberne Becher in den Händen, in den ächzenden Scherensesseln Platz genommen hatten. Nacheinander begrüßte Butumites mit gleichbleibender Höflichkeit Tancred von Tarent, den Neffen Bohemunds, Hugo von Vermandois und Robert von der Normandie.
»Seit dem sechsten und siebenten Tag im Weidemond, jetzt im vierzigsten Tag, ist Euer Heer vor der Stadt«, hub Butumites an und griff nach einem Becher mit gemischtem Wein. Zwischen den Zeltpfosten schwelten Duftholzspäne in Tonkrügen und vertrieben das Geschmeiß. »Zwar sieht der Basileus Nikaia lieber unzerstört, denn einst gehörte die Stadt zu seinem Reich. Aber seine Geduld schwindet Stunde um Stunde.«
»Wenn der Turm gefallen ist«, antwortete Raimund von Toulouse mit der bestimmenden Festigkeit des wahren Gläubigen, »stürmen wir Nikaia.«
Raimunds tausend Berittene und zehn Tausendschaften und Bohemunds zweihundertfünfzig Ritter und siebenmal so viele Streiter ohne Reittiere hatten unter Tancreds Führung die nordöstliche Mauer Nikaias und das Konstantinopeltor zu belagern begonnen. Bohemund war erst am 14. Tag des Weidemonds selbst zu seinem Heer gekommen.
Raimund der Einäugige und sein Heer schlugen ihr Lager am 16. Tag des Weidemonds am mächtigen Tor vor der Südmauer auf, nachdem Gottfried, der vom 6. Tag im Weidemond an der Ostmauer, links von Tancreds Heer, die Zelte seines Gefolges aufgerichtet und Palisaden eingerammt hatte. Der General, Bohemund, Gottfried und der Graf von Saint-Gilles würden gemeinsam einen Beschluss fassen müssen. Von ihnen hing es ab, ob und wann die Stadt fiel.
»In vier Tagen und Nächten sind alle meine Belagerungstürme fertig, alle Geschütze bereit«, sagte Butumites, musterte die Fürsten der Reihe nach und hob den Becher. »Jeder einzelne Mann, nicht nur meine Söldner an den Wurfmaschinen, muss zum Sturm bereit sein. Das Gleiche gilt für Tatikios' Männer. Das erwartet der Basileus von uns.«
Gottfried von Bouillon hatte Anfang des Ostermonds Konstantinopels Gyrolymne-Tor angegriffen, das zu Kaiser Alexios' Blacherna-Palastgebiet führte, und schließlich, blutig zurückgeschlagen und mühsam besänftigt, am Ostersonntag den Eid auf Basileus Alexios abgelegt. Ihm war, das hatte der General erfahren, die Höhe der Beute recht gleichgültig, denn es ging ihm um den Vorteil der pilgernden Ritter des Herrn und die Befreiung Jerusalems.
»Die Sarazenen halten die Stadt besetzt und wehren sich wie die Rasenden«, sagte Bohemund und leerte den Inhalt eines Kruges in seinen leer getrunkenen Becher. »Sie verteidigen, sagt man, unermessliche Beute und die umfängliche Familie des Sultans. Es müssen ihrer Unzählige sein!«
»Zuerst waren Eure Heere nicht vollständig.« Butumites schüttelte den Kopf und redete beschwichtigend weiter. »Daher erhielt die Seldschuken-Besatzung fast ungehindert Nachschub mit Booten, die den See befuhren. Nachdem Graf Raimund einer Vorhut des riesigen Heeres des Sultans am 21. Tag im Weidemond eine furchtbare Niederlage bereitet hat, scheint die ganze Gegend frei von heidnischen Kriegern zu sein. Tag um Tag suchen meine Späher die feindlichen Reiter. Bisher vergebens.«
»Ihr meint also, der Augenblick sei günstig, mit vereinten Kräften die Stadt zu stürmen?«, fragte Gottfried.
Butumites nickte. Schon der Umstand, dass die einzelnen Heere und einige
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