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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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unterbrochene waagrechte Linien zeigten die unterschiedlichen Höhen des Wassers an. Fahles Moos wucherte auf den Quadern und verhüllte die Fugen zwischen den Steinen. Vor einer Ewigkeit, dachte Rutgar, waren diese steinernen Würfel aufeinandergetürmt worden, atmeten und keuchten feuchte Jahrhunderte aus; jetzt saß er hier und betrachtete einen Ausschnitt einer Ewigkeit, deren Bedeutung er nicht begriff.
    Er ließ den Arm fallen, ritt an Chersalas Seite und griff nach ihren Fingern. Sie und Berenger waren die einzigen festen Säulen, an die er sich klammern konnte. Unvermittelt, als sie in den Hohlweg hineinritten, zog vage und nicht greifbar, wie Nebel aus dem Schilf, Furcht in sein Herz ein.
    Es hatte eine Zeit gegeben, in langen Stunden und Nächten, in der Rutgar sich vor der Strafe für seine Sünden gefürchtet hatte, für Taten, von denen er nicht wusste, dass sie sündig waren. Lange hatte er mit Peter dem Eremiten darüber geredet. Den Sinn vieler Worte hatte er nicht verstanden. Jetzt, vor Nikaia, so weit wie nie von der Heimat entfernt, angesichts des riesigen Heeres und der täglichen Gräuel, an einer Stelle angelangt, von der aus der Weg nach Jerusalem seinen Anfang nahm, begann er innerlich zu zittern. Er konnte nicht mehr umkehren; die Mauern versperrten ihm den Weg zurück, und die unzähligen Krieger und Pilger rissen ihn mit sich wie ein angeschwollener Strom. Er dachte an das Dörfchen Drakon und sein ruhiges Leben mit Chersala, und wieder fand er sich im Mahlstrom der vielen Tausenden, die ihn mit sich zogen und zerrten und nicht gehen lassen würden. Nur für seinen Traum und einen Beutel goldener und silberner Münzen? Wohin auch würde er fliehen können?
    »Hast du den Teufel gesehen?«, sagte Berenger, als sie ihn eingeholt hatten. »Dein Gesicht ist weiß wie Schnee.«
    »Ich habe verstanden«, antwortete Rutgar, »dass ich ein Teil vom dem allen hier bin. Ein kleiner Teil, unbedeutend. Sie ziehen mich mit sich, wie mit Sporen, Peitsche und Zügel.«
    Chersala starrte ihn entsetzt an. Berenger schlug ihm auf die Schulter und klatschte die Hand auf die Kruppe von Rutgars Pferd. »Wenigstens führst du nicht ständig den göttlichen oder päpstlichen Auftrag im Mund. Wir reden heute Nacht darüber, Ritterlein«, sagte er. »Im Zelt. Jetzt suchen wir nach den Reitern des Sultans. Auch wenn dir die Furcht ins Gesicht geschrieben steht.«
    »Es ist nicht ... ich fürchte mich nicht vor den Seldschuken.« Rutgar ruckte am Zügel. Berenger hob den Arm, und im Poltern der Hufe blieben die Geräusche der Belagerung zurück und wurden leiser.
 
    Die Kriegsknechte des Generals hatten das geräumige Ratszelt auf einer ebenen Fläche des Hügels hochgezogen. Im Mittagswind bewegten sich träge die Stoffbahnen der kaiserlichen Fahnen. Tränken, roh gezimmerte Tische und Bänke umstanden das Zelt, es roch nach Wein, nach Kräutersud, Heu und gesicheltem Gras und dem Rauch kleiner Feuer.
    General Butumites, umgeben von Söldnern, Übersetzern und Anführern seiner Mauerbrecher, stand unter den mächtigen Ästen einer Kastanie und blickte zum Lager und zur Stadt. Er trug eine Halbrüstung und darunter die wertvolle Kleidung, die ihn als Vertreter des Kaisers auswies. Das Poltern von Hufschlägen wurde lauter.
    »Es ist Gottfried von Bouillon, General«, sagte Arkadios, sein Schreiber, und deutete auf eine Gruppe von ungefähr einem Dutzend Reitern, die auf den Hügel zuritten. Hinter ihnen reckten sich die Spitzen der Zelte, von Staub und Rauch umbrodelt, ins Sonnenlicht. Der Lärm der Belagerung war kaum zu hören. »Der reiche Herzog von Niederlothringen und seine ungleichen Brüder.«
    »Ich werde mit allen so zuvorkommend und höflich reden, wie es mir der Basileus aufgetragen hat.«
    Ein doppeltes Viereck aus hundert schwer gerüsteten Ehrenwachen umstand das Zelt. Arkadios blickte prüfend um sich und nickte zufrieden. »Seit den ersten Tagen im vergangenen Monat belagert Gottfried die Mauern mit vielleicht elfeinhalbtausend Männern und wenig Erfolg im Osten.«
    »Erfolglos und zu lange. Auch Gottfried weiß nicht, was wir wissen. Bei ihm ist dieser entsetzliche Eremit, nicht wahr?«
    »Mit wenigen Pilgern. Aber er predigt leise und nicht oft.«
    Manuel Butumites hatte die fremden Heere und deren Anführer lange und meist zu seinem Missvergnügen in Konstantinopel und am Hof des Kaisers erlebt. Er verfügte über Berichte, die ihm das Wesen und die Eigenarten eines jeden Grafen und Ritters und

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