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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Aus jeder Geste, aus jedem Wort der Armen sprach die verzweifelte Sehnsucht nach Leben ohne Furcht und Erlösung von allen Übeln, die Hoffnung, Gnade vor dem Gottesgericht zu finden und Sicherheit, weder vom Fegefeuer noch der Höllenglut gestraft zu werden. Verspürte auch er diese Sehnsucht? Galt für ihn dasselbe Ziel?
    Er zog den Kopf zwischen die Schultern; er wusste es nicht. Als das Kirchenportal in seinem Rücken dröhnend zufiel, zuckte er zusammen und schlug die Augen auf. Die Menge war wie ein wilder Fluss über die Kirchenschwelle geschäumt, der alle und jeden mit sich riss. Auch ihn? Das gleichnishafte Bild erschreckte ihn: treibende Bäume, ertrunkene Menschen und Tiere, zerfetzte Hausdächer und stinkender Abfall in der reißenden Strömung, Schlamm, zertrümmerte Boote und losgerissene Wassermühlen, Sand, Geröll und tausend Dinge, die nichts aufzuhalten vermochte. Bettler und Fürsten verschlang der entfesselte Strom. Auch ihn? Oder sollte er dieses Wasser meiden? Er entschloss sich, abzuwarten, bis sich seine wirren Gedanken geklärt hatten und die Wasser gefallen waren. Im Halbdunkel des riesigen Kirchenraums fühlte er sich einsam und verloren, auch nachdem die Vesper geendet hatte.
 
    Ein dichter Ring aus Hütten, Verschlägen, Scheunen und Ställen umgab, an einigen Stellen zwei- und dreifach hintereinander, den wachsenden Bau der Kirchenmauern und der Türme. Hunderte Feuer brannten und rauchten in der Arbeitersiedlung, die einem Dorf glich, das der nächste Sturm ohne Spuren fortblasen konnte. Tausend Steine wurden bemeißelt, ebenso viele Meißel wurden geschliffen; ein einziges Hämmern, Rattern, Knarzen und ein Kanon kaum deutbarer Geräusche umgab den Wall wuchernder Gerüste. Gespanne mit klirrenden Felgen brachten Steine und Balken, Pferde wieherten. Aus der zusammengedrängten Steinmasse aus Mauern, Türmen, Wänden und spitzkegeligen Dächern, dem Chorumgang und den Flanken des mächtigen Viereckturms stiegen der dumpfe Schall des Mönchsgesanges und der stundenlangen Chorgebete.
    Es roch nach Schweiß, brodelnder Suppe und frischem Brot, nach den Abtrittgruben und dem frisch ausgeschaufelten Boden, aus dem sich die wuchtigen Fundamente der Querhäuser und der geplanten Seitentürme hervorschoben. Jean-Rutgar blinzelte in der fahlen Sonne des Christmonds und führte das Gespann, das drei Quader aus dem Steinbruch trug, zum Hebebaum der Nordwand. Träger zerrten die grob behauenen Steine zu den Trossen und schwenkten die Hebebäume herum. Schritte knirschten auf der Schicht aus kleinen Steinsplittern und den Resten der Meißelabschläge. Die Zugtiere versenkten die Mäuler in die Futtersäcke. Zwischen einer Steinmetzhütte und einem windschiefen Haus mit Lehmwänden, das die Helfer bewohnten, kam Laienbruder Rasso auf Rutgar zu und klapperte mit Holzbechern.
    »Ein Schluck aus dem Keller meiner geistlichen Brüder!«, rief er und hob den Krug. »Ein gottgefälliger Trunk, Rutgar!«
    Rutgar sprang auf den Brettersteg, der über den schlammigen Boden führte. Das Holz war vom letzten Regen nass und glitschig.
    »Danke, Rasso«, sagte er nach dem ersten Schluck. »Hast du mit den Brüdern aus der Kanzlei geredet? Wie steht es mit dem Pergament?«
    »Sie schenken dir ein paar Fetzen.« Rasso wischte Weintropfen aus dem struppigen Bart. »Vielleicht glauben sie, dass du den neuen Weg des Glaubens unseres Ordens unterstützt, wenn du mir schreibst.«
    »Ich will nur lernen, wie man vieles mit möglichst wenigen Worten schreibt.«
    Seit Jean-Rutgar für den Besitzer des Gespanns arbeitete, wusste er, dass der Laienbruder sich noch nicht an das Gebot des Ordens zu halten brauchte, wenig oder nichts zu reden und sich, wie die Priestermönche Clunys, der Verständigung durch das System von Finger- und anderen Zeichen zu bedienen. Aber er hatte gelernt, wie Wörter abzukürzen waren und dennoch ihren Sinn behielten. Pergament war teuer; das reiche Cluny konnte Hunderte Häute kaufen. Ein einfacher Pferdelenker oder Ochsentreiber war auf die Reste angewiesen, die vom Tisch der Herren fielen. Rutgar leerte den Becher und ließ sich nachschenken. Er wich einem Quader aus, der durch die Luft taumelte und sich vor dem Dach der Steinmetzhütte ins Geröll senkte.
    »Je besser ich schreiben kann«, sagte er, »desto mehr erfährst du aus der Welt, in die du dich nicht hinaustraust, mein Freund.«
    »Ein alter Mann wie ich hofft nur noch, seine letzten Tage in der Gnade Gottes und in einer trockenen

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