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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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weniger gelten Gesetze. Auch wenn wir alle dem Basileus durch Eid verpflichtet sind, vermag nicht einmal ich vorherzusagen, wer das Land beherrschen wird, wenn Euer Heer erst Antiochia befreit hat.«
    Scheinbar leidenschaftslos versenkte er seine Blicke in die Gesichter der Heeresführer. Rutgar lehnte am Stamm eines Obstbaumes, in dessen Krone Fliegen und Bienen summten. Die feierliche, inbrünstige Begeisterung während Papst Urbans Rede war spätestens seit der Belagerung Nikaias ohne Spuren vergangen; es gab zwischen all diesen Männern, dachte Rutgar, die gleichen Eifersüchteleien, die gleiche Gier nach Besitz und Macht, das gleiche Maß an Gewalttätigkeit und Bereitwilligkeit zu töten oder getötet zu werden wie vor dem gewaltigen Bekenntnis von Clermont. Manchmal schien es ihm, als wären viele jener Ritter, die sich mit dem roten Kreuz schmückten, eher vom Teufel besessen als von Gott erfüllt.
    Tatikios winkte Berenger in seine Nähe und schloss: »Berenger, mein bester Kundschafter, wird Euch, edle Herren, nunmehr berichten, wie es um die Straßen, die Furt und die Brücken über den Fluss Tarschemme steht, über die Erwartung der Armenier und die Begierde der Seldschuken, die Schwerter mit den Ungläubigen zu kreuzen und Euer Blut zu vergießen.«
    Berenger trat an den Tisch, neben seinen General, und verbeugte sich.
    Tatikios fügte noch hinzu: »Dann werden wir entscheiden, wann wir nach Herakleia aufbrechen. Aufmunternde Himmelszeichen werden uns begleiten.«
    Berenger begann zu reden. Jeweils nach drei Sätzen übersetzte der Sprachkundige seinen Bericht, der an Deutlichkeit und Genauigkeit nichts zu wünschen übrig ließ.
 
    Rutgars Schritte auf dem abgeweideten Gras waren fast unhörbar. Zwischen den Zelten flackerten Fackeln und Kerzen; über dem Lager bei Ikonion strahlten die Sterne des mondlosen Himmels. Rutgar suchte das Himmelszeichen, das von Nacht zu Nacht gewachsen war, ebenso wie die kalte Furcht vieler Pilger. Auch der Wächter am anderen Ende der Lagergasse starrte schweigend in das Sternenmeer. Zwischen den Gestirnen war aus einem kleinen Stern in drei Nächten zuerst ein weißer Faden geworden, dann eine lang gezogene Lanzenspitze aus Licht, schließlich deutete eine spitze, schneeweiße Strähne auf ein Bild aus vier Sternen. Die Geistlichen hatten das Zeichen als Symbol des christlichen Sieges bezeichnet, aber viele Pilger deuteten es als Unheilsboten; in den vergangenen Jahren hatte der Herr mit solchen Erscheinungen Missernten, Seuchen und Pestilenz angekündigt.
    Rutgar blickte die leuchtende Spur an und fand nicht einmal für sich selbst eine tröstende Erklärung. Er zuckte voll Unbehagen mit den Schultern und lenkte seine Schritte in weitem Halbkreis um das Lager. Die Pferde im Pferch waren ruhig, ebenso wie die Schläfer in den Zelten und unter den Bäumen, deren Blätter im Nachtwind raschelten.
    Mit einem flüchtigen Lächeln dachte Rutgar an andere Nächte, in denen der Himmel so tief zu hängen schien, dass ein Nachtvogel die Sterne nach kurzem Flug erreichen hätte können. Vertraut und zugleich bedrohlich, ob es Nacht über der Provençe gewesen wäre, am Bosporos oder über der eisigen Hochebene. Wann immer es möglich gewesen war, hatten Chersala und er nebeneinander oder wenigstens in der Nähe des anderen gelegen, die Berührungen spürend und im Wachen wie im Halbschlaf die Furcht davor teilend, was vor ihnen lag. Sie hatten überlebt, und jede Entbehrung half ihnen, sich in dieser Fremde besser zurechtzufinden. Wenn die Vielzahl kleiner Vertrautheiten und Gesten wortloser Übereinkunft, die sie verband, wenn das alles, dachte Jean-Rutgar, jene hohe Minne war, von der man redete und sang, liebten sie einander. Selbst im Licht dräuender Himmelszeichen, trotz dieser und anderer Gefahren. Sein Lächeln verstärkte sich; ruhig blieb seine Hand auf dem Dolchgriff.
 
    Die armenischen Bauern aus dem Land um Ikonion verkauften den Franken einige Dutzend Pferde, viele dürre, aber kräftige Zugochsen und so viele Schafe, Ziegen und Kälber, wie sie erübrigen konnten. Seit vielen Tagen der Entbehrung tranken die Kinder des Pilgerzugs wieder warme Milch, und das frisch gebackene Brot schmeckte köstlicher als je zuvor. Nach fünf Tagen erschöpften Rastens rüstete sich der Heerzug am 28. Tag des Erntemonds und brach in gewohnter Ordnung auf.
    Die Pilger wurden von einigen Hundert Armeniern begleitet, deren Saumtiere und Karren mit wassergefüllten Fässern,

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