Jerusalem
glaubte Rutgar in der Ferne furchtbares Rumoren zu hören: Hufschlag Tausender Pferde, Klirren, Geschrei und Heulen, rasend schnelles Trommeln und Trompetensignale, die sich halb verschluckt überschlugen.
»Ich kann's nicht glauben«, sagte er zu sich selbst und ließ den Schlagarm mit dem Morgenstern sinken. »Sie waren so viele, mehr als wir - und nun überlassen sie die Stadt uns.«
Langsam senkte sich der Staub. Das riesige Heer der Seldschuken flüchtete, von Behomund und einigen Hundert Rittern verfolgt, in wildem Galopp nach Norden. Der Komet, dachte Rutgar, war also doch ein Siegeszeichen gewesen. Seine Blicke suchten Chersala, die heranritt und lächelnd den letzten Pfeil in den Köcher zurücksteckte. Die Kundschafter des Generals trabten auf das östliche Tor der Stadtmauer zu, deren Flügel zu ihrem Erstaunen weit geöffnet waren.
Die Pferde der flüchtenden Emire waren schneller als die Reittiere der Christen. Bohemund vermochte den Emir nicht einzuholen, obwohl er zwei Pferde zuschanden ritt. Erleichtert lagerten die Pilger und die Angehörigen der Heere in der Stadt und außerhalb der Mauern.
Berenger, ein Dutzend Kundschafter, Jean-Rutgar und Chersala wohnten in einem schmalbrüstigen, vierstöckigen Haus, das sich außen an die Stadtmauer lehnte. Die seldschukischen Bewohner waren Hals über Kopf geflohen und hatten Teile ihres Besitzes zurückgelassen. Neben dem Stall und dem Innengarten gab es gemauerte Bäder, in denen weiche Tücher auslagen und verwirrende Düfte aus Tiegeln und kleinen Krügen aufstiegen.
Die Reiter versorgten ihre Pferde und streckten sich auf den weichen Polstern der Liegen aus. Berenger, Rutgar und Chersala stiegen die steile Treppe zu den obersten Kammern hinauf.
Der Waräger lehnte sich an den Stützbalken des Türsturzes. »Wir werden nicht lange rasten können«, sagte er so laut, dass es die Kundschafter hören konnten, die unter ihm im Haus ausschwärmten. Er zwinkerte Rutgar zu. »Also lasst es euch gut gehen. Ich schlafe hier, neben der Treppe. Die Frauen der Armenier, glaube ich, werden unsere Kleider waschen und ausbessern.«
Rutgar ließ die Schultern hängen und antwortete leise:
»Erst einmal ein Bad und ungestört schlafen. Dann reden wir über den Kometen und über den Streit der fränkischen Fürsten.«
Berenger löste den Schwertgurt und nestelte an den Schließen seines Wamses, während Chersala den Helm abnahm und die Schicht aus Staub und Schweiß von der Stirn wischte. Fast lautlos schloss Berenger die Tür; Chersala und Rutgar waren allein.
Eine Handvoll ruhiger Stunden später saß Rutgar, gekleidet in ein wadenlanges Hemd aus hauchdünnem Stoff, das noch nach fremdartigen Salben oder Schönheitswässern roch, auf dem weißen Scherenstuhl aus Holz. Auf der Platte des Schreibpults - zuletzt hatte er ein solches Möbel in Köln gesehen - lag ein unbeschriebenes Pergamentblatt. Nach dem Bad, nachdem der schwitzende Armenier Rutgars Bart geschoren und das Haar gekürzt hatte, kroch schläfrige Schwäche durch seinen Körper, aber zum ersten Mal seit vielen Tagen hatte er das Bedürfnis, einen Teil seiner Gedanken niederzuschreiben. Und er hatte Zeit, war allein und erinnerte sich, als er den Federkiel in die Tinte tauchte, nicht an Chersala und die ungestörte Liebesnacht, sondern an den grellen Lichtstrahl des Kometen.
Jean-Rutgars Schreiben an Herrn Neidhart im Stift Sankt Marien in Köln:
Vielleicht, Herr Neidhart, werdet Ihr mit Gottes Hilfe meine Briefe erhalten. Ich habe sie dem Bruder Lambert anvertraut, der Botschaften der christlichen Ritter an die Bischöfe am Rhein trug. Er verließ unsere Schar in Ikonion. Nun versuche ich zu berichten, was weiterhin geschieht, nachdem, wie Fulcher von Chartres sagte, nur noch der Herr in seinem Zorn die Heiden verfolgt.
Jeder Tag, den Gott werden lässt, ist anders: Kämpfe, Entbehrungen, Durst und Hunger, abermals Dreinschlagen und Töten, dann gottlob wieder Ruhe und Schlaf. Seit drei Tagen geht es uns gut, denn wir lagern wohlig und satt.
Die armenische Stadt Herakleia, die unsere Heere von der Herrschaft der Heiden befreit haben, ist nicht reich, aber von gastfreundlichen Menschen bewohnt, die den Pilgern Unterschlupf und Nahrung gewährten. Schon zwei Tage lang ließen sie uns hier wohnen. Trotzdem gibt es zwischen den Fürsten mancherlei Streit über den rechten Weg nach Antiochia und darüber, ob ein kühner Streiter Gottes in diesem Land ein eigenes Lehen für Gott und den
Weitere Kostenlose Bücher