Jerusalem
Schlachtfeld zu töten gehörte zum Beruf eines Kriegers. Aber Unschuldige, die sich nicht zu wehren vermochten und um Gnade wimmerten, ohne Grund zu metzeln, zählte nicht zu den Rittertugenden.
Rutgar lenkte das Pferd nach links, wandte sich herum, blickte in die Gesichter seiner Begleiter und sagte in beschwörendem Ton: »Kerboga und sein Heer sind hierher unterwegs. Der Proviant und alles andere aus unserem Lager werden in wenigen Stunden in der Stadt sein, in den Häusern, in denen wir lagern. Das Heer wird wenige Vorräte in Antiochia finden. In wenigen Tagen sind wir die Belagerten! Noch steht uns der heiße Sommer bevor.« Er legte die Hand auf die Gürtelschnalle und überließ sich wenige Atemzüge lang bitteren Vorwürfen. »Antiochia ist geplündert, halb zerstört, ausgeraubt. Wir, die Späher und Kundschafter des Generals, werden unsere Brunnen verteidigen müssen. Im Namen des Tatikios' befehle ich euch, zusammenzuhalten. So, wie wir es auf dem Durstmarsch und dem Regenmarsch gehalten haben.«
Er deutete auf drei ältere Reiter, deren Zuverlässigkeit er kannte. »Ihr steigt auf die Mauer oder in einen Turm und berichtet, was ihr seht. Wir reiten zurück zum Lager und hüten den Proviant. Zuerst, wenn der große Hunger ausbricht, schlachten wir Maulesel und unsere schwächsten Tiere. Bald fangen die Leichen zu stinken an; wir müssen sie dort, wo wir lagern, schnell begraben. Denkt immer daran: Wir gehören nicht zu den fränkischen Rittern! Also - zurück zum Lager.«
Der Ritt durch die Stadt, deren Brände gelöscht waren, hatte den Kundschaftern gezeigt, dass bei Anbruch der Nacht kein Seldschuke mehr am Leben sein würde; auch Christen waren unter den schier zahllosen Leichen. Bohemund hatte Befehl gegeben, die Festung durch einen steinernen Wall von der übrigen Stadt abzuriegeln. Die Ritter des Bischofs von Le Puy und deren Gefolge hatten die Kathedrale umstellt, ein Teil war eingedrungen und hatte die Pferde des Emirs samt den kostbaren Sätteln und des goldstrotzenden Zaumzeugs herausgebracht. Jeder Windhauch trug den eitrigen Todesgestank der Erschlagenen durch die Stadt. Schweigende Tefuren begannen hastig das Kircheninnere zu säubern, während Bischof Adhemar den griechischen Patriarchen Johannes aus dem Kerker befreite und waschen, verköstigen und einkleiden ließ.
Die Kundschafter ritten zu ihren Unterkünften zurück und versorgten die Pferde, bevor sie anfingen, mit der Hilfe von Armeniern Gruben auszuschaufeln und Leichen einzusammeln. Am Abend kam ein Reiter mit Nachrichten und berichtete, dass die christlichen Gotteshäuser geräumt und gesäubert würden und in Teilen der Stadt die Leichen inmitten riesiger Fliegenschwärme faulten. Die Ritter begannen einzusehen, dass ihre Zahl nicht reichte, um die Stadt entschlossen verteidigen zu können.
Eine Gruppe armenischer Holzfäller brachte den abgeschlagenen Kopf Emir Yaghi-Siyans zu Fürst Bohemund, in der Hoffnung auf eine reiche Belohnung. Sie sollte sich nicht erfüllen, denn Bohemund jagte sie weg; aber wahrscheinlich hatten sie sich mit dem Schmuck und der Kleidung des Emirs bereits selbst hinreichend belohnt. Den Kopf ließ Bohemund in Sichtweite der Festung auf einen Spieß stecken, den Verteidigern zum Hohn und zur Warnung.
Die Reste des Tatikios-Lagers wurden zum Lager geschleppt. Dann ließ Bohemund das letzte, das Herzogtor, schließen. Kundschafter hatten bestätigt, dass sich Kerbogas riesiges Heer näherte.
Geschliffene Marmorplatten und Fliesen aus unbekanntem Stein, goldene Ornamente, weiße Tonkrüge und Vorhänge aus schimmerndem Stoff ließen im Baderaum die Augen übergehen. Die dampfende Luft roch nach fremdartigen Spezereien und köstlichem Balsam. In Metallschalen brannte duftendes Öl. Als sich Rutgar ins Wasser des Bodenbeckens gleiten ließ, wusste er, dass ihnen wenig Zeit für Wohlleben bleiben würde; einige Tage vielleicht oder nur Stunden.
Das vielfache Sterben während der jahrelangen Pilgerfahrt hatte in seinem Herzen nicht so tiefe Verheerungen angerichtet wie die Raserei des Hinmetzelns, des Schlachtens und Brennens und Mordens unter Kindern, Frauen und Greisen. Besinnungslose Wut, die sich im Plündern zeigte. Blutströme im Zeichen des Pilgerkreuzes. Gierig und blind und von schwarzem Mut erfüllt, der jenseits des Verstehens war; als ob sie unverwundbar und nicht zu töten wären. Rutgar fühlte sich elend und schwach, erfüllt von wortlosem Entsetzen, umgeben von Wärme und
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