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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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alte Straße. Zufällige Gruppen, die es nur einen Tag miteinander aushielten, hatten sich zusammengefunden und beteten laut, während sie rüstig ausschritten. In anderen Abschnitten sangen die gleichen Pilger tagelang vielstimmig fromme Lieder. Noch fehlte es nicht an Wasser, Wein und Essen, und jeder tat, was ihm einfiel, ohne dass er den Weg aus den Augen verlor.
    An jeder Stelle des Zuges, in ununterbrochener Folge, blieben einzelne Pilger stehen, gingen rechts und links zur Seite und stellten sich an den Straßenrand, schlugen ihr Wasser ab oder verrichteten hockend ihre Notdurft; bald blieb eine triefende, stinkende Doppelspur entlang des Sandweges der Rheinaue zurück. So ging es vom Morgen bis zur Abenddämmerung, in der sich Tausende Menschen Plätze zum Schlafen suchten. Im Nachtlager, beim Licht von Fackeln und Lagerfeuern, nach der Abendmesse, stachen die Pilger die Blasen ihrer Füße auf und beschmierten die blutenden Stellen mit schwarzer Salbe. Wenn die Wolken aufrissen, sahen die Gläubigen schaudernd die grellen, lautlosen Lichtpfeile der Himmelszeichen des unerforschlichen Gottes; selbst Peter dem Eremiten fiel es schwer, die Zeichen richtig zu deuten.
 
    Die Werkzeuge der Steinmetzen und Dombauer lagen sauber ausgebreitet auf den unfertigen Säulen, Kapitellen und Teilen des Architravs; die Handwerker, die einen Teil des Kreuzgangs erneuerten, machten Mittagspause. Bruder Neidhart setzte sich auf die Brüstung, nickte dem Cellerar Severin zu und deutete ins Ungefähre.
    »Der Platz und der Brunnen vor der Kirche - noch nie hab ich sie so leer gesehen. Und so sauber.«
    »Sie sind fort.« Severin blieb stehen und betrachtete die kantige Ordnung der Steine. »Gott sei Dank. Und in der Stadt ist es wie nach einer langen Belagerung. Du hast diesem Franzosen Pergament und Tinte mitgegeben, nicht wahr?«
    »Ja. Er hat geschworen, unserem Kloster vom Weg nach Jerusalem und den silbergepflasterten Straßen zu schreiben.« Der Vertraute des Erzbischofs faltete die weichen Hände. »Köln war gnädig zu ihnen. Aber ... da sind viele Städte und Grafschaften auf dem langen Weg, die ihnen vielleicht nicht so freundlich gesinnt sind. Wer weiß, ob das Heer je das Heilige Land erreichen wird«
    »Gratia Dei!«, sagte Severin. »Die Juden Frankreichs und im Rheinland zittern vor Todesangst. Seit der Niederlothringer von Bouillon sich auf den Weg nach Jerusalem vorbereitet, glauben sie, dass er die Kreuzigung unseres Herrn mit ihrem sündigen Blut rächen will.«
    Ein Windstoß wirbelte Steinstaub und eine Handvoll Laub vom letzten Jahr über die Steinplatten des Kreuzgangs. Neidhart nickte bedächtig.
    »Oberrabbiner Abraham Kalonymos von Mainz hat ein Bittschreiben an Kaiser Heinrich geschickt.«
    »Nicht ohne Erfolg. Sie haben den Mainzern und uns jeweils fünfhundert Silberstücke angeboten. Der deutsche Kaiser schrieb uns, und so haben womöglich wir für ihre Sicherheit zu sorgen.«
    »Das wird den ›Zimmermann‹ von Melun oder den Grafen von Leiningen nicht daran hindern, ihr Mütchen an den reichen Juden zu kühlen.«
    Severin sah einem gurrenden Taubenpärchen zu, das auf einer einzeln stehenden Säule umeinandertrippelte. »Schwerlich«, sagte er. »Wenn wir die Zeichen richtig deuten, dann ist die Zukunft voller Unsicherheit. Die Sterne fallen vom Himmel, Gevatter Tod hält reiche Ernte. Was wird die Heilige Kirche tun?«
    Neidhart betrachtete den flügelschlagenden Täuberich, senkte den Kopf und murmelte: »Sie wird sich entrüsten und mahnend das Wort erheben. Cum tacet, consentire videtur. Unser Schweigen bedeutet Zustimmung.«

Kapitel IV
 
A.D. 1096, 22. T AG DES W EIDEMONDS (M AI )
S TRASSE NACH M AINZ BEI A NDERNACH AM R HEIN , F LUSSAUE
 
»Welche ich lieb habe, die strafe und züchtige ich.
So mache dich auf und tue Buße!«
(Offb 3,19)
 
    An einem der Abende, an denen tiefe, regennasse Wolken über den Rhein trieben, näherte sich Jean-Rutgar, das Haar schulterlang und von der Sonne gebleicht, dem Einsiedel. Er bahnte sich mühsam einen Durchgang in der Pilgergruppe, die sich um den Eremiten drängten, sprang über einige Pfützen und verbeugte sich vor Peter.
    »Ihr seid der verehrungswürdige Prediger Petrus von Amiens, Herr?«
    »Ich bin Peter der Eremit.« Peter starrte prüfend in Rutgars schmales, bartloses Gesicht und in dessen strahlend grüne Augen. »Und wer seid Ihr?«
    Rutgar blickte um sich und schüttelte sich kurz, dann antwortete er: »Jean-Rutgar von Les-Baux, Herr.

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