Jerusalem
Flucht. Rutgar wandte sich ab, seine Blicke suchten den Prediger. Im Tal blieben frische Gräber, schlammig zertrampelte Bachufer, stinkende Asche und Glut erlöschender Feuer und eine gewaltige Menge Abfall zurück.
Irgendwo hinter dem dichten Wald verbarg sich ein Bach oder Fluss, dessen Rauschen, einmal lauter, einmal leiser, Tag und Nacht nicht abriss. Peter der Eremit, dessen Esel stundenlang hinter den Pfadfindern hergetrippelt war, war im Halbdunkel des Waldes in seinen Gedanken versunken.
Rutgar konnte sich vorstellen, was er dachte. Die Welt war voller Hunger und Armseligkeit, ein Reich des Teufels, in dem jeder unbedachte Schritt Sünde und ewige Verdammnis bedeutete. Das Leben, ein dorniger Irrweg zwischen Geboten und Verboten, gefährdet durch Schmerz und Krankheiten, Seuchen und Vorzeichen ewiger Verdammnis, erhielt nur dann den gottgewollten Sinn, wenn es auf dem Weg des Herrn zur Seligkeit führte, denn Gott führte und geleitete den gläubigen Pilger. Die lange Pilgerreise, der bevorstehende Kampf um Jerusalem, die Wiederkunft Christi - die Sehnsucht, die Peter erfüllte, sein Herz und seinen Körper in traumgesichtigen Bildern zittern ließ, würde jeden einzelnen Pilger an das Ziel führen, an das er glaubte und dem er Schritt um Schritt entgegenstrebte.
Ungewohnte Geräusche unterbrachen die Grübelei. Peter hob den Kopf und schaute sich um. Hundertfünfzig Schritte hinter ihm blitzte ein verirrter Sonnenstrahl auf den Rüstungen der Gewappneten. Der lehmig-feuchte Pfad vor ihm wand sich zwischen Bäumen; deutlich erkannte Rutgar die tiefen Hufeindrücke der Vorausreiter, die sich mit schwarzem Wasser gefüllt hatten. Peter unterschied dumpfes Hufgetrappel, Stimmen, das Klirren von Waffen, kurzes, scharfes Gelächter, raschelndes Gebüsch und brechende Äste. Peter hielt den Esel an, der seine langen Ohren aufstellte und nach vorn richtete.
Der Reiter im Sattel des Schimmels erkannte Peter; es war einer der Boten, den der Prediger an Statthalter Niketas geschickt hatte. Er winkte Peter zu und schien ebenso erleichtert zu sein wie dieser. Dem Boten folgten schwer bewaffnete Reiter, deren hochmütige Gesichter das verwirrte Staunen über den Pilgerzug zeigten. Einer nach dem anderen bog um eine Baumgruppe und zügelte sein Pferd, ein Bärtiger grüßte Rutgar aus unerforschlichem Grund mit halb erhobenem Arm und grinste. Die Reiter waren augenscheinlich länger als nur einen Tag unterwegs gewesen. Der Bote hob wieder den Arm und rief:
»Es sind Reiter aus Nisch, Ehrwürdiger! Sie erwarten uns.«
»In Nisch? Lassen sie uns bleiben und ausruhen?«
Eineinhalb Dutzend bulgarische Petschenegen-Söldner versperrten den Pfad und musterten mit ausdruckslosen Gesichtern den Einsiedel und den Bewaffneten an dessen Seite. Einer der Reiter redete in einer Sprache, die Rutgar erkannte, auch wenn er sie nicht verstand. Es war die Sprache der Griechen. Peters Bote übersetzte, während das Murmeln der Gebete hinter Peter lauter und deutlicher wurde:
»Wenn du ihnen Geiseln stellst, wird man genug Lebensmittel für uns alle nach Nisch schaffen.«
Die Ritter an der Spitze des Zuges kamen näher. Rutgar bedeutete ihnen mit einigen Gesten, dass die Petschenegen keine Gefahr bedeuteten, dann rief Peter: »Sag ihnen, dass ich Geiseln stellen werde. Einige der gräflichen Ritter. Und wir wollen nicht lange bleiben, denn unser Ziel ist Konstantinopel.«
Der Bote wendete sein Pferd, übersetzte und winkte. Die fremden Reiter bildeten zwei Reihen und nahmen Peter den Eremiten, Rutgar und die Ritter in die Mitte. Misstrauisch musterten sich die Berittenen und schätzten die Güte der Waffen ab, während sie den Biegungen des Pfades folgten.
Schweigend ritten sie eine halbe Stunde lang, dann lichtete sich der Wald. Aus dem Lehmpfad wurde eine leidlich trockene, drei Ellen breite Straße, und abermals eine halbe Stunde danach wälzte, schob und drängte sich der Pilgerzug im Sonnenschein und in der Mittagshitze auf die Türme und Mauern einer kleinen Stadt zu. Linker Hand glänzte Sonnenlicht auf einem Fluss; Nisch, so erfuhren die Pilger, lag am Fluss Morawa, dessen grünliches Wasser und das seiner namenlosen Zuflüsse sie während der Wanderung plätschern gehört hatten.
Das Gerücht von einer unübersehbar großen Menge armer Pilger hatte Nisch und die Dörfer der Umgebung schon Tage vor der Spitze der zweiten Pilgerkarawane erreicht. Sommerliche Hitze lag schwer über dem Land. Bauern und Feldarbeiter
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