Jerusalem
hatten Peter und Rutgar erfahren, wartete seit einem guten Dutzend Tagen Walter Sans-Avoir mit vielen gräflichen Rittern, desgleichen einige Pilgergruppen aus der Lombardei, die zu Walters Zug gestoßen waren.
Rutgars Pferd, mit glänzendem Fell und inzwischen wohlgenährt, wehrte sich nicht gegen den Sattel und den Zaum. Sein Vorbesitzer schien den schwarzen Wallach mit der Stirnblesse rücksichtslos und gewaltsam zugeritten und lange Zeit misshandelt und die wahren Qualitäten des Tieres unterdrückt zu haben.
»Konstantinopel! Hauptstadt des Oströmischen Reichs! Perle in der Krone des Neuen Roms!«, rief Peter ein ums andere Mal aus. »Wir haben es geschafft! Gott ist mit uns!«
Länger als einen Tag und eine halbe Nacht lang kroch der Zug auf breiten Straßen, meist im Schatten großer Pappeln, an denen Weinreben rankten, durch saftiges Bauernland. Große, abgeerntete Kornfelder erstreckten sich zwischen schwellenden Weiden, auf denen wohlgenährtes Vieh weidete. Berittene Söldner in glänzenden Rüstungen begleiteten die Pilger, die sich am Reichtum des Landes nicht sattsehen konnten. Die einfachsten Bauernhäuser, sagten sie untereinander, glichen fürstlichen Wohnsitzen; die Brunnen waren nur kurze Wegstrecken voneinander entfernt.
Als sich der Zug endlich der Stadt näherte, erblickten die Pilger voll ehrfürchtigem Staunen zuerst die vier Meilen lange, nördliche Landmauer mit ihren unzähligen Türmen; Dreihundertsiebzig, sagte man ihnen, gebe es rings um die Stadt. Kalksteinquader und Ziegel bildeten in der unüberwindlichen Baumasse lange, honigfarbene, die Augen verwirrende Bänder. Die rhomäischen Söldner nannten sie die »Mauer des Theodosius« und »Konstantinus-Mauer«; sie sei älter als ein halbes Jahrtausend. Davor dehnten sich Zelte, Hütten und Wälder dunkelgrüner Pappeln aus, die Rutgar an die heimatlichen Zypressen erinnerten. Dünne Rauchsäulen stiegen in den überirdisch blauen Himmel.
Die niedrigere Außenmauer spiegelte sich in dem Graben, und die wenigen Tore, die Peter und sein Gefolge sahen, waren geschlossen und wurden schwer bewacht. Walter Sans-Avoirs Reiter führten Peters Riesenheer zu einem Lagerplatz weit außerhalb der Mauer, in der Nähe des Handwerkerviertels, der ihnen vom Kaiser zugewiesen worden war. Der lange Zug strömte auseinander, zerstreute sich schnell, und die Wanderer versammelten sich um die Brunnen und Viehtränken.
»Gott hat uns sicher geführt«, sagte der Eremit inbrünstig und sah sich lange um, bevor er sich vom Eselrücken gleiten ließ. Rutgar half ihm, ohne nachzudenken. »Habt ihr's gesehen? Seht ihr es? Das ist ein Land, in dem Milch und Honig fließen. Fast so fruchtbar und schön wie das Heilige Land, das uns erwartet!«
Die Pilger schlugen in gewohnter Eile ihr Lager auf, trieben die Zugochsen und Pferde auf die Weiden, die man ihnen zuwies, und schienen zum ersten Mal ihre Erschöpfung zu spüren. Die Reiter brachten Peter in einen Hain aus schwer tragenden Obstbäumen, zu einem kleinen Gehöft. Die Besitzer hatten es verlassen. Für Peter, ein halbes Dutzend seiner Priester und Jean-Rutgar gab es kleine Kammern in dem Bauernhaus, die mit Strohschütten, Hockern, einem wackligen Tisch und gemauerten Fenstern ausgestattet waren. Erleichtert zog Rutgar seine Stiefel aus und stopfte sie voll mit trockenem Stroh. Er starrte seine fahlweißen, geschwollenen und schweißfeuchten Füße an und stöhnte vor Erleichterung, als er sie in ein Holzschaff voll kalten Wassers steckte.
Rutgar und andere fromme Begleiter beschworen den Eremiten, die ungewohnten Annehmlichkeiten eines heißen Bades auf sich zu nehmen, den langen Bart und das Haar zu kürzen, die Wangen zu schaben und saubere Kleidung anzuziehen. Rutgar, der inzwischen einen kurzen Kinnbart trug und sein Haar bis auf zwei Fingerbreit kürzen ließ, bettelte Peter förmlich darum. Peter schickte sich jammernd darein, um wenigstens den Schorf, die juckenden Pusteln und die vielen eitrigen Mückenstiche loszuwerden, lehnte aber die angebotenen Sandalen ab und blieb barfuß.
Man warf die fadenscheinige, stinkende und verkotete Mönchstracht ins Feuer und kleidete den Prediger in ein neues Gewand, das ihn zwischen Hals, Gemächt und Knöcheln unaufhörlich juckte. Er ächzte beim Gehen; die durch die Bäder aufgeweichte graugelbe Hornhaut seiner Sohlen schmerzte bei jedem Schritt.
Kapitel VI
A.D. 1096, 1. T AG DES E RNTEMONDS (A UGUST ), NACH M ITTAG
K ONSTANTINOPEL , AM M EERESARM
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