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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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und blickte sich mit weit aufgerissenen Augen um. Man führte sie durch blühende Gärten und leere Höfe, vorbei an sprudelnden Brunnen, auf deren Umrandungen fette Tauben gurrend umeinandertrippelten. Wieder ein Saal mit offenen Wänden und weißen Vorhängen wie Nebelschwaden.
    Die Söldner bedeuteten Rutgar zu warten und führten Peter durch einen breiten Seiteneingang. Rutgar blieb neben dem Rand eines Brunnens stehen, in dessen flachem Wasser sich Himmel und Wolken spiegelten. Er sah staunend in einen weiten, mit Schmuck überladenen Saal hinein.
    »Ist es der Thronsaal ...?«, überlegte er laut.
    Alexios Komnenos, der sich als Basileus, Kyrios und Autokratōr tōn Rhomaiōn, als König, Herr und Selbstherrscher der Römer, sowie als Porphyrogennetos, der Purpurgeborene, titulieren ließ, da er als Sohn eines regierenden Kaisers in der Porphyra, einer besonderen Kammer des Großen Palastes, zur Welt gekommen war, saß, mit der ringgeschmückten Hand im rußschwarzen Kinnbart wühlend, auf seinem Thron und schien schweigend zu überdenken, was ihm Hofschranzen und Späher berichteten, die ihn flüsternd umschwänzelten, was seine Spione herausgefunden und mit welchen Übergriffen die Anführer seiner Truppen zu rechnen hatten. Mehr als nur eine Ahnung ließ Rutgar denken: Ein überaus schlechter Ruf ging, wohl zu Recht, den ärmlichen Pilgerheeren voraus, und jede Nachricht aus Ungarn bestätigte, was der Basileus und seine Ratgeber befürchtet hatten. Sie erwarteten im Kampf gegen die Türken - die Seldschuken - die Hilfe kampfstarker Heere unter dem Banner Urbans II. und sahen sich indessen einer unübersehbar großen Menge bedürftiger, zerlumpter Landstreicher gegenüber, von denen viele zwar tief gläubig, aber sonst zu kaum etwas anderem zu gebrauchen waren als zu hungrigen Empfängern milder Gaben.
    In einem kaiserlichen Heer wären sie Wasserträger oder Pferdeknechte, unbrauchbar für jeden Kampf. Hätte er doch damals, würde der Kaiser denken müssen, auf der Synode von Piacenza, nicht leichtfertig Papst Urban um Waffenhilfe gegen die Seldschuken gebeten!
    Die Fremden, insgesamt mehr als dreißigtausend, mussten so bald wie möglich das Land verlassen, denn sie waren zur Verteidigung der Grenzen völlig nutzlos. Das, davon war Rutgar überzeugt, würde Alexios befehlen. Er verstand mühsam, was der kahlköpfige, heftig gestikulierende Übersetzer aussprach: »Mit Peter dem Eremiten aber will ich reden, denn ich halte den Seltsamen für eine Art wandelndes Wunder, für ein Mirakel dieser Jahre, in denen sich das Jahrhundert, wie es die römische Christenheit rechnet, gerundet hatte. Ich glaube mich zu erinnern, mit einem solchen Prediger vor etlichen Jahren geredet zu haben; ein Mann ähnlichen oder gleichen Namens hat mir von den Nöten der Christen in Jerusalem erzählt. Kann es derselbe Bruder Petrus sein?« Rutgar war nicht nahe genug am Thron des Kaisers und konnte längst nicht sicher sein, dass er jedes Wort verstand.
    Peter von Amiens löste sich aus der Gruppe der Söldner, kam zu Rutgar zurück und sagte leise:
    »Schreib auf, was du siehst und hörst, Bruder Rutgar.« Ein Leuchten, wie es Rutgar bisher nie gesehen hatte, überzog sein bärtiges Gesicht. »Dann glauben uns die anderen Pilger, was wir im Palast erlebt haben.«
    Jean-Rutgar setzte sich auf den steinernen Rand des Brunnens und betrachtete die blitzende Messerschneide. Langer Gebrauch hatte sie dünn werden lassen, aber sie schnitt den Federkiel in der Glätte durch, die Rutgar brauchte. Er sah den treibenden Wolken über der asiatischen Küste zu, schließlich kratzte er sich im Nacken und murmelte:
    »Was soll ich schreiben? Die Gedanken des Kaisers?«
    Ein Windhauch bewegte die Vorhänge und wehte Blütenduft zwischen die weißen Mauern. Rutgar legte das Messer neben das Tintenfässchen, tunkte den Federkiel ein und begann unter den wachsamen Blicken der umstehenden Wachen zu schreiben.
    Die Federspitze schien sich zu wehren und begann auf dem Pergament zu kratzen.
 
    Jean-Rutgar aus Les-Baux schreibt an Herrn Neidhart im Kanonikerstift Sankt Marien zu Köln am Rhein:
    Anno Domini 1096, am 2. Tag des Erntemonds. Ich, Jean-Rutgar aus Les-Baux, habe Herrn Neidhart von Sankt Marien versprochen, ihm und seinem Herrn Erzbischof Herrmann von Hochstaden zu schreiben, was ich an Seltsamem auf der Pilgerfahrt nach Konstantinopel gesehen habe. 100 Tage sind wir singend und betend durch die Lande gezogen. Heute hat es Kaiser Alexios

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