Jerusalem
über die Wasser der Propontis, den Meeresarm des heiligen Georg, den die Turkmenen wohl nicht von ungefähr »den Schlund« nennen. Wer kennt all die Schluchten Asiens, die wilden Krieger und die Flüsse, die jeden fürwitzigen Pilger ertränken wollen?
Rutgar, nahe daran, einzuschlafen, stemmte sich blinzelnd in die Höhe. Die Sonne würde ihn braten, rösten und seinen Verstand ausschmelzen, sagte er sich und tappte, den Mantel hinter sich herschleifend, von tausend Fliegen umsummt, ins kühle Halbdunkel des Bauernhauses.
Stimmen und rauer Lärm weckten Rutgar aus einem heißen Schlaf, der ihn in die Tiefe eines schwarzen Abgrunds versetzt hatte. Blinzelnd und gähnend kam er auf die Beine und brauchte einige Atemzüge, um zu erkennen, wo er war. Er schüttelte Strohhalme aus dem Haar, schlang den Mantel um die Schultern und stolperte zur Tür.
Fünf Berittene, Söldner des Kaisers, hatten die Pferde im Schatten eines Kirschbaums gezügelt. Ihr Anführer betrachtete den Prediger, der wie ein Kuttenzwerg vor ihnen stand und mit erhobenem, schräg gelegtem Kopf zuhörte.
»Du hast die freundliche Anteilnahme unseres Herrschers«, verstand Rutgar. »Er will mit dir im Palast reden. Vielleicht gibt er dir großzügige Geschenke. Sicherlich erteilt er dir und deinem armen Heer Ratschläge und Befehle, weil ihr durch selbst verschuldete Missetaten so viele Opfer zu beklagen habt.«
»Die Güte eures Herrn überwältigt mich«, antwortete Peter stockend. »Ich werde in den Palast eilen, so schnell ich kann.«
Er drehte sich zu Rutgar herum und blickte ihn fragend an. Rutgar nickte lächelnd. Der Anführer starrte ihn an, als leide er an Aussatz.
»Er ist mein tapferster Begleiter. Er wird bezeugen, dass der Herrscher mich empfangen hat«, sagte der Eremit. »Er kennt viele Sprachen und kann schreiben.«
»Halte dich bereit.« Der Anführer deutete auf Rutgar. »Zwei Stunden nach Mittag.«
Er gab den Zügel frei, ließ das Pferd auf der Stelle drehen und trabte zwischen den Stämmen des Obsthains auf den Weg hinaus. Die übrigen Reiter folgten ohne Eile.
»Alexios I. Komnenos, im Purpurgemach des Großen Palasts zu Konstantinopel geboren«, sagte Peter verträumt. »Vor fünfzehn Jahren hat man ihn zum Kaiser des großen oströmischen Reiches gekrönt. Er wird jede Wohltat, die wir ihm erweisen, hundertfach vergelten. Mich, den armen Peter von Amiens, lädt er in seinen Palast ein!«
Und ich darf dabei zusehen, dachte Rutgar und ging zu seinem Strohlager. Er konnte es noch nicht richtig glauben.
Berittene Petschenegen-Söldner, die zwei gesattelte Schimmel mit sich führten, geleiteten Peter und Jean-Rutgar entlang der Mauer und des Wassergrabens nordwärts zu einem schwer bewachten Stadttor und zur Audienz in den Palast. Rutgar trug die Ledertasche, die Pergamente und Schreibzeug enthielt, am Riemen über der Schulter. Die Wachen öffneten dieses Mal beide Torflügel und verneigten sich.
Die Höhe der Mauer und ihre glatten Quadern hatten Jean-Rutgar erstaunt; die Pracht und die Größe der meisten Gebäude verwirrten ihn. Die Stadt, drei Monate nachdem sie vorgeblich ihren siebenhundertsechzigsten Geburtstag gefeiert hatte, war das Schönste und Fremdartigste, das er je gesehen hatte. Er glaubte zu träumen, als er hinter Peter in der Mitte einer breiten Straße dahintrabte, im Schatten alter Bäume, deren Kronen das Klappern der Hufe dämpften. Unzählbar viele bunt gekleidete Menschen, Verkaufsstände voller unbekannter Waren, ein Stimmengewirr und seltsame Gerüche, die zwischen weißen Säulen hervorwehten, blitzende Helme und Waffen, kostbare Tuche und braunhäutige Stadtbewohner, die verschiedenen Arbeiten nachgingen, von denen Rutgar einige erkannte - er ertrank schier in einem Wirbel unglaublicher Bilder und verwirrender Eindrücke. Fünfhunderttausend Bewohner drängten sich innerhalb der Mauern, sagte ein Reiter. Wie durch einen Traum ging der Ritt durch einen Teil der riesigen Stadt bis zu einem Palasttor.
Knechte und Diener rannten herbei und kümmerten sich um die Pferde, halfen Peter und Rutgar aus den Sätteln und führten sie durch das Tor, das sich lautlos öffnete und hinter ihnen wieder schloss; Rutgar drehte sich um, aber er sah niemanden an den hohen, schlanken Flügeln, die mit vergoldetem Metall beschlagen waren und sich in bronzenen Angeln drehten.
»Es ist alles wie ein göttliches Wunder«, stieß Peter atemlos hervor. »Wie das goldene Jerusalem, Rutgar.«
Rutgar schwieg
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