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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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DES HL . G EORG
 
»Der Herr hebt auf den Dürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen, auf dass er ihn setze unter die Fürsten.«
(1.Sam 2,8)
 
    Die Stadttore blieben meist geschlossen, erklärten die Petschenegen, und wurden bisweilen für kleine Gruppen staunender Pilger geöffnet, die man von Bewaffneten begleiten ließ. Die Pilger glaubten eine andere Welt zu betreten. Breite Straßen ohne jeden Schmutz, helle Hausmauern, Schnitzwerk, Säulen und prächtige Stoffe, die aus großen Fenstern wehten, Wohlgerüche und der Odem unbekannter Gewürze, gleißender Sonnenschein und kühler Schatten, in dem es nach Rosenwasser roch, verwirrten die Pilger. Fremde Menschen lächelten ihnen zu.
    In den Straßen quirlten unter weißen Sonnensegeln schwarzbärtige Griechen und Angehörige vieler anderer Völker lautstark durcheinander, die den Pilgern Proviant, Früchte, kalte Getränke und honigtriefende Süßigkeiten anboten. Seltsame Musik klang aus kühlen Innenhöfen. Die Pilger verstanden kaum ein Wort der Stadtbewohner, die sich darüber wunderten, dass die Gesichter der Pilger den Ausdruck fröhlichen Eifers trugen, und den Gebeten und Liedern aus durstigen, heiseren Kehlen verdutzt zuhörten.
 
    Jean-Rutgar, der auf dem Gehöft zurückgeblieben war, zog das Stäbchen, das er aus einer Haselrute geschnitzt hatte, aus seinem Ledersack und betrachtete die Kerben. Er zählte zwanzig Gruppen von fünf Einschnitten; seit dem Auszug von Köln waren nur hundert Tage vergangen. Ein Wunder! Vielleicht hatte er den einen oder anderen Tag zu zählen vergessen, aber was war alles in diesen dreieinhalb Monaten geschehen!
    Er sah sich um, steckte zwei Finger zwischen die Lippen und stieß einen gellenden Pfiff aus. Er winkte drei Jungen herbei, gab ihnen einige Tetarterone aus seinem spärlichen Vorrat und sagte:
    »Mein Pferd, der Schwarze dort mit dem Seilhalfter und den weißen Läufen - holt euch Wasser und striegelt ihn.« Er zeigte auf die weidenden Tiere. »Schön langsam! Vergesst Mähne und Schwanz nicht! Er ist friedlich und schlägt nicht aus, wenn ihr ihn nicht erschreckt.«
    Die Jungen rannten davon. Rutgar suchte sich abseits der Hütte ein halb sonniges, halb schattiges Plätzchen und breitete seinen Mantel im hohen Gras aus. Zum ersten Mal spürte er eine schwere Müdigkeit, ein dumpfes Schlafbedürfnis, das einer Erschöpfung glich. Trotzdem trieben ihn Erinnerungen und Gedanken um, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Jene hundert Tage und Nächte - ihm war, als habe er in dieser kurzen Zeit mehr erlebt als in vielen Jahren davor.
    Der unglaublich lange Weg von Köln nach Konstantinopel! Die Pfade, Wege und Straßen durch Länder, deren Namen zuvor niemand je gehört hatte - außer vielleicht Peter und ein paar andere Männer. Rutgar hatte geholfen, Kinder zur Welt zu bringen, hatte Nabelschnüre durchtrennt, hatte Unzählige sterben sehen, kleine und große Gräber ausgehoben, hatte mit dem Gefolge der Ritter an den Lagerfeuern getrunken und manchmal mit Holzschwertern gekämpft. Seine Schultern, Arme und Beine und der Brustkorb waren voller verschorfter und heilender Schnitte, Narben und blauer und gelber Flecke, aber jetzt dachte er zum ersten Mal daran, dass er inzwischen all das gelernt hatte, was er in seiner Jugend schuldlos zu lernen versäumt hatte.
    In den hundert Tagen hatte sich seine Sicht der Person Peters, des Eremiten aus Amiens, abgesehen von dessen heiligmäßigem Geruch und der dreckstarrenden Kutte, gründlich verändert. Peter war reinen Herzens. Seine Bedürfnislosigkeit, keinen Herzschlag lang gespielt, entsprang keiner Berechnung. Er glaubte an das, was er empfand, was ihm seine gottgesandten Träume eingaben. Peter Venerabilis aus der Picardie war wirklich ein geistliches Gefäß voll der Gnade, ein überfließender Gralskelch in der Kelter des Herrn.
    Er vertrat seine Träume und sein Sendungsbewusstsein mit unfassbarer Beredsamkeit. Selbst die Ritter gehorchten ihm - meistens zumindest. Häufig erzählte er von seiner beschwerlichen Pilgerfahrt nach Jerusalem. Aber war er tatsächlich in Jerusalem gewesen, dachte Rutgar schläfrig. Im Rheinland habe ich es ihm so recht nicht geglaubt, diesem »Kiokio« mit der mächtigen Kraft der Überzeugung. Jetzt bin ich unsicher. Doch das ändert nichts daran, dass er uns sicher bis hierher geführt hat.
    Aber woher kennt er die Wege, die nach Konstantinopel führten? Wird er uns auch nach Jerusalem leiten, auf einer noch beschwerlicheren Reise,

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