Jerusalem
singe selten oder nie, aber Gott ist mein Freund. Ein alter Kapellan, ein Born der Klugheit, väterlicher als mein unbekannter Vater, hat mir vieles beigebracht. Reiten lehrten mich Freund und Halbbruder Thybold und Ragenarda; und so manch anderes Schönes und Gutes. Sie hat mich gelehrt, keine Gefahr zu fürchten, sie aber zu umgehen, wenn ich sie erkenne.«
»Viele verschiedene Wesen tummeln sich im Paradies des Herrn«, bestätigte Peter verständnisvoll. »Seine Liebe umfasst auch unbotmäßige Ritter, die von Stehlerei und Raub leben. Und ... Reiten, das Schwert, all das, das hat dich jener ritterliche Halbbruder gelehrt?«
»Wenig gefehlt, Herr Peter«, antwortete Rutgar zögernd. »Mehr als zwei Jahre lang hab ich auf den Booten der Schiffer geschuftet und ein wenig Geld verdient. Ich kann rudern, steuern, segeln und - wirklich! - schwimmen, und auch ... im Kampf überleben. In Les-Baux traf ich Ragenarda.«
»Die Mutter deiner Kinder, Rutgar?«
Rutgar begann schallend zu lachen, hustete und spuckte mit Staub gemischten Speichel ins dürre Gras. Er beruhigte den tänzelnden Rappen und wischte den Schweiß aus dem Gesicht.
»Von Ragenarda und meinen ungeborenen Söhnen erzähl ich Euch ein andermal, Ehrwürdiger. Für derlei Geschichten ist's heute viel zu heiß und staubig.«
Peter nickte verständnisvoll. Hinter ihm ritt ein Dutzend älterer Pilger. Sie waren bewaffnet, besaßen rostige Helme, mit den Kinnriemen am Sattel festgeknüpft, und Teile zerschrammter Rüstungen und verstanden, ebenso mit ihren Waffen wie mit den nachfolgenden Pilgern umzugehen. Sonnenhitze, Staub und schweißtreibende Bewegungen duckten die Menschen zu Boden; niemand sang, kein Pilger betete laut; in einer Stunde kamen sie in dem Land, das ihnen fremd blieb, weniger als zwei Meilen voran.
Dornige Ranken zerrissen die Haut und die Kleider der Wanderer und das Fell der Tiere. In der gnadenlosen Hitze schlief eine Hälfte der Säuglinge an der Mutterbrust, die andere Hälfte schrie und quäkte. Ihre verschwitzten Körper waren voller hochroter Hitzepusteln, weißer Schaum trocknete in ihren Gesichtern. Größere Kinder, die neugeborene Zicklein oder Lämmchen in den Armen trugen, stolperten zwischen den Erwachsenen umher und kamen viel zu oft den steilen Abhängen zu nahe; ihre Mütter riefen sie kreischend zurück in die staubige Prozession.
Zwischen den dahinschlurfenden Gruppen der Pilger trieben Jugendliche kleine Herden: Schafe und, wegen der Milch für die Kleinen, einige magere Ziegen und Kühe. Die halb erwachsenen Kinder hatten sich mit jenen Waffen ausgerüstet, die sie gefunden oder gestohlen hatten oder von den Älteren weggeworfen worden waren. Einige trugen zerbeulte Helme, die sich in der Sonne erhitzt hatten wie Kessel über einem Feuer, die Tiere blökten, meckerten und brüllten unwillig. Ihre Felle starrten vor Schmutz, und sie stanken mehr als die Pilger. In der Staubwolke surrten Hunderttausende goldfarbener Schmeißfliegen, sammelten sich zu Wolken und zerstreuten sich wieder, stürzten sich summend und sirrend auf Mensch und Vieh. Erschöpfte Pilger verließen den Zug, taumelten zur Seite und schliefen im kargen Schatten eines Busches ein; manche starben vor Entkräftung und blieben liegen, bis Geier und andere Aasfresser sich auf die Leichname stürzten.
Schlangen und Skorpione raschelten unsichtbar im Gras und im staubigen Blätterwerk niedriger Büsche. Weit und breit war kein Zeichen menschlicher Besiedlung zu erkennen, nicht einmal Rauchsäulen am heißen Horizont. Wo der Zug hindurchgewandert war, sah es aus wie vor der Erschaffung der Welt.
Peter der Eremit schüttete Wasser aus dem Ziegenbalg in die hohle Hand und versuchte sein Gesicht vom Staub zu reinigen. Seine Augen tränten in der Sonnengrelle, in den Augenwinkeln juckte der Staub, das lauwarme Wasser schmeckte brackig nach Leder. Ein kräftiger Wind, von dem hier oben nichts zu spüren war, füllte die Segel von Booten und Schiffen im Marmarameer. Es war zu heiß zum Singen, Beten und Denken; flüchtig fiel Rutgar auf, wie viele »Ritter« sich inzwischen im Heer tummelten. Ihre Menge schien wunderbarerweise gewachsen zu sein. Aber es gab einfachere Erklärungen hierfür.
»O Herr Jesus«, murmelte Peter zu sich und nahm einen zweiten Schluck. »Deine Prüfungen sind furchtbar. Aber der Ablass unserer Sündenstrafen wiegt schwerer als ein paar Meilen im Staub.«
Längst, spätestens seit Köln, wusste Rutgar, dass Mörder,
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