Jerusalem
ist. Seit Mariä Himmelfahrt.«
Rutgar zuckte mit den Schultern und beobachtete die schwitzenden Pilger, die sich in gewohnten Gruppen zusammengefunden hatten und auf der weiten Fläche des Lagers Laubhütten flochten, Stöcke aufstellten und Decken ausbreiteten, Stricke spannten und Holz für die Feuer zusammentrugen. Zwischen den erschöpften Menschen, schreienden Kindern und weidenden Schafen waren viele Frauen und alte Männer zu sehen, die Wasser in Kübeln und Ziegenbälgen schleppten.
»Ich hab auch lange nachgedacht, als wir dort draußen gewandert sind«, sagte Rutgar nach einiger Zeit. Er machte eine umfassende Geste. »Sie alle fühlen sich beschützt von den Wällen und Palisaden. Wohin flüchten wir, wenn die Türken angreifen?«
Peter schlug ein Kreuz und deutete zu den Schiffen. »Dorthin.«
»Und wenn keine Schiffe auf uns warten?«
Der Eremit zog die Schultern hoch. »Ich weiß es nicht.«
Beide dachten an das Land südlich des Lagers und an dessen Bewohner, an die unübersehbare Zahl von Hügeln, Wäldern und Schluchten, die sie von der Straße aus gesehen hatten. Hinter einer unsichtbaren Grenze lauerten die Feinde des Glaubens und des Pilgerheers.
Rutgar klatschte die Handfläche gegen die Wölbung seines Schildes und sagte nach einigen Atemzügen:
»Morgen, wenn die Ritter zu neuen Raubzügen ausschwärmen, reite ich mit einem der Herren.« Seine Stimme wurde rau. »Ich will nicht plündern, Ehrwürdiger, sondern lernen, wie das Land aussieht. Es mag sein, dass wir Verstecke brauchen: Höhlen, Schluchten, Pfade zu unentdeckten Buchten. Zwei, drei Tage lang werde ich ausbleiben. Sorge dich nicht um mich.«
Peter von Amiens nickte voll Verständnis.
»Ich werde zum Volk sprechen«, sagte er und betrachtete ausdruckslos das Durcheinander. »Bleibt hier, werde ich sagen, denn hier sorgt der Kaiser für euch.«
»Predige du dem Volk«, antwortete Rutgar und wickelte das Tuch um den Dolchgriff fester. »Gottfried Burel und die anderen Ritter werden dir nicht mehr gehorchen.«
»Das ist gewiss.« Der Eremit füllte den Becher aus dem Schlauch und roch am Wein. »Wie soll das enden? Es ist noch so weit nach Jerusalem.«
»Wie du immer sagst, Verehrungswürdiger: Unser Schicksal ist in Gottes Hand.« Rutgar begann zu verstehen, dass nicht nur Beutegier, sondern auch ein gut Teil Ratlosigkeit die Ritter zu ihren Taten gegen wehrlose Dörfler trieb. »Ich will versuchen, die Gefahren zu erkennen; vielleicht hilft uns das weiter.«
Peter richtete den Blick über die morschen Spitzen der Palisaden in die Wolken des Abendhimmels. Sie stiegen auf und verschmolzen in augenbetäubender Farbpracht; ihre Umrisse zeigten in erschreckender Weise grausame Gesichter, Raubtiere und Ungeheuer, so schaurig, als sei der Sonnenuntergang die Vorbereitung auf Armageddon.
»Vielleicht kommen wir trotzdem nach Jerusalem. Wenn Gott es will.«
Rutgar leerte den Becher und ging zum nächsten Feuer. Er versuchte, für sich und Peter etwas von dem Proviant zu bekommen, den die Schiffe gebracht hatten.
Mitten in der Nacht weckten laute Stimmen, Fackellicht und Waffengeklirr den Prediger. Gleichzeitig wachte Rutgar auf; er schlief, das Schwert neben sich, einige Schritte weit entfernt. Das Geschehen war wie eine Wiederholung jener Nacht in Konstantinopel, als der Basileus den Befehl gab, die Pilger zu vertreiben. Als Rutgar im Licht der knisternden Fackeln die Gesichter eines Dutzends gräflicher Heerführer erkannte, nahm er die Hand vom Schwertgriff.
Walter Sans-Avoir hob die Hand. Seine Miene war ernst; er sah auf Peter von Amiens mitleidig, aber entschlossen hinunter. Langsam richtete sich Peter auf und blinzelte im Licht der Flammen ratlos um sich.
»Wir haben lange beraten, verehrungswürdiger Prediger«, sagte Graf Walter und blickte, als suche er Hilfe, Reinhold von Breis und Fulk von Orléans an. »Wir sind entschlossen.«
»Wozu entschlossen, um Himmels willen?«, fragte Peter. Alle Grafen und Ritter des Heeres umstanden ihn im Halbkreis. Hugo von Tübingen, Walter von Teck, Konrad und sein Bruder Albert, die von Zimmern, Gottfried Burel und Reinhold, Walter von Breteuil und fast alle anderen Ritter.
»Du bist nicht mehr länger der Anführer von uns allen«, sagte Wilhelm von Poissy scharf. »Wir werden unser Heer anführen und warten nicht mehr länger. Du sollst schon morgen nach Konstantinopel gehen und dort unser Gesandter sein, im Palast des Basileus.«
»Ihr wisst nicht, was Ihr sagt!«, rief
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