Jerusalem
seinen Gedanken kämpften sechstausend Deutsche und Lombarden gegen ein Heer von zehntausend oder mehr Seldschuken, an deren Spitze der Sultan ritt. Wie die Kämpfe enden würden, stand für ihn fest: Danach würden sich die Seldschuken auf die Überlebenden stürzen, also auf die Frauen und Kinder im Lager in Civetot.
»Die Sieger stehen bereits fest«, flüsterte Rutgar heiser. »Aber sie heißen nicht Rainald, Foucher von Orléans und Walter Habenichts!«
»Ich zeige dir den Weg zu unserer Fluchtburg am Meer.« Chersala legte die Hand auf Rutgars Unterarm. Ihr Lächeln wurde bedeutungsvoll: »Morgen! Jetzt solltest du schlafen. Du hast so lange Wache gehalten in der Nacht.«
Er holte tief Luft, gähnte und deutete das Funkeln in ihren Augen richtig. Ihre Zehen kitzelten seine Wade. »Das ist wohl wahr.«
Ein Dutzend Kriegsknechte trabten auf dem Weg nach Nikaia voraus. Sie hatten die Kinnbänder der Helme festgezurrt, trugen Schilde und Lanzen, an denen Fähnchen knatterten. Pferdehufe, Karrenräder und die Schritte von etlichen Tausenden Männern hatten den Sandweg breitgetrampelt. Im Abstand von einem Steinwurf folgte ihnen Ritter Rainald, behelmt und im Kettenhemd; ihm hatten sich mehr als zweihundert Reiter angeschlossen. In schnellem Trab, aber ohne erkennbare Eile, ohne zu schreien oder zu jubeln, drangen sie im Süden Civetots in die bewaldeten Hügel und Täler ein.
In Haufen, die aus dreihundert oder fünfhundert Männern bestanden, stapften mehr als fünftausend Pilger hinter den Staubwolken her, die von den Pferdehufen hochgewirbelt worden waren. Alle Angehörigen des Pilgerheers, selbst Priester und andere Gottesdiener, bewaffnet und mit allerlei Seilen und leichtem Belagerungsgerät leidlich gut ausgestattet, kamen aus der Menge, die seit Ostern zu Köln dem Peter von Amiens gefolgt waren. Vielleicht zwei Dutzend Maulesel trugen gefüllte Wassersäcke.
Eine Stunde verging, bis alle Fremden in südöstlicher Richtung an den seldschukischen Reitern vorbeigezogen waren, die unsichtbar und abseits der Straße lauerten, und bis der Morgenwind die Gerüche und den Staub fortgeweht hatte. Dann folgten die Reiter auf überwachsenen Pfaden dem Zug der bewaffneten Pilger.
Nikaia war dreißig, fünfunddreißig Meilen von Civetot entfernt. Wenn die Pilger rasten würden, so rechneten die seldschukischen Späher aus, mussten die Dörfer um den See mit den ersten Überfällen am nächsten Tag rechnen, gegen Mittag. Diejenigen Pilger, die zu jung, zu alt, zu schwach oder zu krank zum Marschieren und Kämpfen waren, blieben in Civetot zurück, zugleich mit einigen Dutzend Grafen und Rittern und deren Gefolge; die Verpflegung, die von den Raubzügen übriggeblieben und von kaiserlichen Schiffen angeliefert worden war, reichte noch für einen Zehntag aus.
Rutgar aß und trank, schlief im weichen Stroh, schabte seinen Bart und wusch sich am Brunnen, striegelte seinen Rappen und hielt die Fesseln des Tieres, während Vater Gautmar die Hufe und Hufeisen nachsah und einige Nägel ersetzte. Die Männer redeten leise miteinander; beide erwarteten Schreckliches.
»Die Mühlen unseres Herrn mahlen langsam«, sagte Gautmar und deutete mit einer Kinnbewegung auf das stillstehende Mühlrad unterhalb des Dorfes. »Aber sie werden die Räuber zermalmen. So lange hatten wir Frieden, Rutgar.«
»Es wird erst wieder Friede sein, wenn das Heer durchgezogen ist«, antwortete Rutgar. »Im Regen des späten Herbstes. Und im Winter.«
»Und wenn die Türken, die zahlreich sind wie Ameisen, sich an den Mördern und Brandschatzern rächen.«
Die Sünden der Bewaffneten des Pilgerheers wogen schwer, aber Absolution und Vergebung aller Sünden verscheuchten das schlechte Gewissen und erleichterten die Rettung derer, die im Heiligen Land darbten und unter der Willkür der Ungläubigen litten. Das Höllenfeuer schien im Land südlich Konstantinopels jeglichen Schrecken verloren zu haben. Gautmar, der ein schweres Lederwams ohne Ärmel, aber mit silbernen Knöpfen trug, ritzte mit einem Stock die Linien von Straßen und Wegen in den schmutzigen Sand, zeichnete an den Stellen von Siedlungen Kreise ein und nannte Namen und Begriffe. Rutgar prägte sich jede Einzelheit ein.
»Die Pilger sind meist arme Bauern und Handwerker«, meinte Rutgar bekümmert. »Nackte Not trieb sie hierher und die Hoffnung auf ein besseres Leben. Mitunter ist es leicht, an Gott zu glauben und dem eifernden Wort seiner Diener zu lauschen.«
»Gott hat
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