Jesus von Nazareth - Band II
der Evangelist lässt uns wissen, dass die Jünger dennoch nicht verstanden, wer gemeint war. So dürfen wir annehmen, dass Johannes aus der Rückschau der Antwort des Herrn eine Eindeutigkeit gegebenhat, die sie im Augenblick für die Anwesenden nicht hatte. Vers 18 führt uns da auf die rechte Spur. Hier sagt Jesus: „Das Schriftwort muss sich erfüllen: Einer, der mein Brot aß, hat mich verraten“ (vgl. Ps 41,10; Ps 55,14). Das ist die klassische Art, wie Jesus spricht: Mit Worten aus der Schrift deutet er auf sein Geschick hin und ordnet es so zugleich in die Logik Gottes, in die Logik der Heilsgeschichte ein.
Im Nachhinein werden diese Worte völlig transparent; es zeigt sich, dass die Schrift wirklich seinen Weg beschreibt – aber im Augenblick bleibt das Rätsel. Zunächst geht daraus nur hervor, dass es einer der Tischgenossen ist, der Jesus verrät; es zeigt sich, dass der Herr bis zum Ende und bis in die Einzelheiten hinein das Leidensgeschick des Frommen durchstehen muss, das vor allem in den Psalmen in vielfältiger Weise erscheint. Jesus muss das Nicht-Verstehen, die Treulosigkeit bis in den innersten Freundeskreis hinein erfahren und so „die Schrift erfüllen“. Er erweist sich als das wahre Subjekt der Psalmen, als der „David“, von dem sie kommen und durch den sie Sinn gewinnen.
Johannes hat dem von Jesus als Prophetie über seinen eigenen Weg aufgegriffenen Psalmwort dadurch eine neue Dimension hinzugefügt, dass er an der Stelle des von der griechischen Bibel gebrauchten Ausdrucks für „essen“ das Wort
trōgein
wählt, mit dem Jesus in seiner großen Brotrede das „Essen“ seines Fleisches und Blutes, also den Empfang des eucharistischen Sakramentes, bezeichnet hatte (Joh 6,54 – 58). So wirft das Psalmwort seinen Schatten voraus in die Eucharistie feiernde Kirche seiner Zeit wie aller Zeiten: Mit dem Verrat des Judas ist das Erleiden des Treubruchs nicht zu Ende gegangen.„Auch mein Freund, dem ich vertraute, der mein Brot aß, hat mich hintergangen“ (Ps 41,10). Der Bruch der Freundschaft reicht in die Kommuniongemeinschaft der Kirche hinein, wo immer wieder Menschen „sein Brot“ nehmen und ihn verraten.
Das Leiden Jesu, der Kampf mit dem Tod, dauert bis ans Ende der Welt, hat Blaise Pascal von solchen Einsichten her geschrieben (vgl.
Pensées
VII 553). Wir können auch umgekehrt sagen: Den Verrat aller Zeiten, das Leid des Verratenseins aller Zeiten, hat Jesus in dieser Stunde auf sich genommen und die Not der Geschichte bis auf ihren Grund durchgestanden.
Johannes gibt uns keine psychologische Deutung für das Tun des Judas; der einzige Anhaltspunkt, den er uns bietet, besteht in dem Hinweis, Judas habe als Schatzmeister des Jüngerkreises dessen Geld veruntreut (12,6). In unserem Kontext sagt der Evangelist nur lakonisch: „Als Judas den Bissen Brot genommen hatte, fuhr der Satan in ihn“ (13,27).
Was mit Judas geschehen ist, ist für Johannes nicht mehr psychologisch erklärbar. Er ist unter die Herrschaft eines anderen geraten: Wer die Freundschaft mit Jesus zerbricht, sein „süßes Joch“ abwirft, der kommt nicht ins Freie und wird nicht frei, sondern verfällt anderen Mächten – oder vielmehr: Dass er diese Freundschaft verrät, kommt schon vom Zugriff einer anderen Macht, der er sich geöffnet hat.
Das Licht, das von Jesus her in die Seele des Judas gefallen war, war freilich nicht ganz erloschen. Es gibt einen Anlauf zur Bekehrung: „Ich habe gesündigt“, sagt er zu seinen Auftraggebern. Er versucht, Jesus zu retten, undgibt das Geld zurück (Mt 27,3ff). Alles Reine und Große, das er von Jesus empfangen hatte, blieb seiner Seele eingeschrieben – er konnte es nicht vergessen.
Seine zweite Tragödie – nach dem Verrat – ist es, dass er nicht mehr an Vergebung zu glauben vermag. Seine Reue wird zur Verzweiflung. Er sieht nur noch sich und seine Finsternis, nicht mehr das Licht Jesu, das auch die Finsternis erhellen und überwinden kann. So zeigt er uns die falsche Weise von Reue: Reue, die nicht mehr hoffen kann, sondern nur noch das eigene Dunkel sieht, ist zerstörerisch und ist keine rechte Reue. Zur rechten Reue gehört die Hoffnungsgewissheit, die aus dem Glauben an die größere Macht des Lichtes kommt, das in Jesus Fleisch geworden ist.
Johannes schließt den Abschnitt über Judas dramatisch mit den Worten: „Als Judas den Bissen genommen hatte, ging er sofort hinaus. Es war aber Nacht“ (13,30). Judas geht hinaus – in einem
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