Jesus von Nazareth - Band II
diesen Zusammenhang zwischen dem Knechtsdienst und der Herrlichkeit
(dóxa)
kommt es in der ganzen Passionsgeschichte des heiligen Johannes an: Gerade in Jesu Abstieg, in seiner Erniedrigung bis ans Kreuz, scheint die Herrlichkeit Gottes auf, wird Gott und in Gott Jesus verherrlicht. Eine kleine Szene am „Palmsonntag“ – man könnte sagen: die johanneische Fassung der Ölberggeschichte – fasst dies alles zusammen: „Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn schon verherrlicht und werde ihn wieder verherrlichen“ (12,27f). Die Stunde des Kreuzes ist die Stunde von Gottes und von Jesu wahrer Herrlichkeit.
4. KAPITEL
DAS
HOHEPRIESTERLICHE
GEBET JESU
A uf die Fußwaschung folgen im Johannes-Evangelium die Abschiedsreden Jesu (Kap. 14 – 16), die schließlich im 17. Kapitel in ein großes Gebet münden, für das der lutherische Theologe David Chytraeus (1530 – 1600) den Namen
Hohepriesterliches Gebet
geprägt hat. Auf den priesterlichen Charakter des Gebets hatte in der Väterzeit besonders Cyrill von Alexandrien († 444) hingewiesen. André Feuillet zitiert in seiner Monographie über Joh 17 einen Text von Rupert von Deutz († 1129 / 30), in dem der wesentliche Charakter des Gebets sehr schön zusammengefasst ist: „Haec pontifex summus propitiator ipse et propitiatorium, sacerdos et sacrificium pro nobis oravit – Dies hat der Hohepriester, der selbst Versöhner und Sühnegabe, Priester und Opfer war, für uns gebetet“ (
Joan
., in:
PL
169, 764 B, vgl. Feuillet, S. 35).
DAS JÜDISCHE VERSÖHNUNGSFEST ALS BIBLISCHER HINTERGRUND DES HOHEPRIESTERLICHEN GEBETS
D en Schlüssel zum rechten Verständnis dieses großen Textes habe ich in dem genannten Buch Feuillets gefunden. Er zeigt, dass dieses Gebet nur auf dem Hintergrund der Liturgie des jüdischen Versöhnungsfestes
(Jom ha-Kippurim)
zu verstehen ist. Das Ritual des Festes mit seinem reichen theologischen Inhalt wird im Beten Jesu realisiert – „realisiert“ im wörtlichen Sinn: Der Ritus wird in die von ihm gemeinte Wirklichkeit übersetzt. Was dort in Riten dargestellt war, geschieht nun real, und es geschieht endgültig.
Um dies zu verstehen, müssen wir zunächst auf das Ritual des Versöhnungsfestes blicken, das in Lev 16 und 23,26 – 32 beschrieben wird. Der Hohepriester hat an diesem Tag durch die entsprechenden Opfer (zwei Ziegenböcke für ein Sündopfer, einen Widder für ein Brandopfer, einen Jungstier: 16,5f) Sühne zu erwirken zunächst für sich selbst, dann für „sein Haus“, das heißt für die Priesterschaft Israels überhaupt, und schließlich für die ganze Gemeinde Israels (16,17). „So soll er das Heiligtum von den Unreinheiten der Israeliten, von all ihren Freveltaten und Sünden entsühnen, und so soll er mit dem Offenbarungszelt verfahren, das bei ihnen inmitten ihrer Unreinheiten seinen Sitz hat“ (16,16).
Bei diesen Riten spricht der Hohepriester das einzige Mal im Jahr, im Angesicht Gottes, den sonst unaussprechlichenheiligen Namen aus, den Gott am brennenden Dornbusch offenbart hatte – den Namen, durch den er gleichsam für Israel berührbar geworden war. So ist es Ziel des Versöhnungstages, Israel nach den Verfehlungen eines Jahres seine Qualität als „heiliges Volk“ wiederzugeben, es neu in seine Bestimmung zurückzuführen, Gottes Volk inmitten der Welt zu sein (vgl. Feuillet, S. 56 u. 78). Insofern geht es um das, was die innerste Absicht der Schöpfung als Ganzer ist: einen Raum der Antwort auf Gottes Liebe, auf seinen heiligen Willen zu schaffen.
Nach rabbinischer Theologie geht ja die Idee des Bundes, die Idee, ein heiliges Volk als Gegenüber zu Gott und in Einheit mit ihm zu schaffen, der Idee der Weltschöpfung voraus, ist ihr innerer Grund. Der Kosmos wird geschaffen, nicht damit es vielerlei Gestirne und Dinge gebe, sondern damit ein Raum sei für den „Bund“, für das Ja der Liebe zwischen Gott und dem ihm antwortenden Menschen. Das Versöhnungsfest stellt diese Harmonie, diesen immer wieder durch die Sünde gestörten Weltsinn je wieder her und bildet deshalb den Höhepunkt des liturgischen Jahres.
Die Struktur des von Lev 16 beschriebenen Ritus ist im Gebet Jesu genau aufgenommen: Wie der Hohepriester sich selbst, die Priesterschaft und die ganze Gemeinde
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