Jesus von Nazareth - Band II
Gemeinschaft der Kirche und freilich über sie hinaus auf die endgültige eschatologische Einheit.
Die zerstreuten Kinder Gottes sind nicht mehr bloß Juden, sondern Kinder Abrahams in dem tiefen Sinn, wieihn Paulus entwickelt hat: Menschen, die wie Abraham Ausschau halten nach Gott; Menschen, die bereit sind, auf ihn zu hören und seinem Anruf zu folgen – adventliche Menschen, könnten wir sagen. Die neue Gemeinschaft aus Juden und Heiden wird sichtbar (vgl. Joh 10,16). So öffnet sich von hier aus auch wieder ein Zugang zum Abendmahlswort von den „vielen“, für die der Herr sein Leben gibt: Es geht um die Sammlung der „Kinder Gottes“, das heißt aller, die sich von ihm rufen lassen.
JESUS VOR DEM HOHEN RAT
D ie grundsätzliche Entscheidung für ein Vorgehen gegen Jesus, die in der Versammlung des Hohen Rates gefällt worden war, wurde in der Nacht von Donnerstag auf Freitag am Ölberg mit der Verhaftung Jesu in die Tat umgesetzt. Man führte Jesus noch zu nächtlicher Stunde in den Palast des Hohepriesters, wo der Hohe Rat (Sanhedrin
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Synedrium) mit den drei Fraktionen – Priester, Älteste, Schriftgelehrte – offenbar bereits versammelt war.
Die beiden „Prozesse“ Jesu vor dem Hohen Rat und vor dem römischen Statthalter Pilatus sind von Rechtshistorikern und Exegeten bis in kleinste Details ausgiebig diskutiert worden. In diese subtilen historischen Fragen brauchen wir hier nicht einzutreten, zumal wir, wie Martin Hengel betont hat, Einzelheiten über das sadduzäische Kriminalrecht nicht wissen und Rückschlüsse aus dem zeitlich späteren Mischna-Traktat
Sanhedrin
auf die Ordnung zur Zeit Jesu nicht statthaft sind (vgl. Hengel
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Schwemer, S. 592). Als wahrscheinlich darf heute wohl gelten, dass es sich bei der Verhandlung gegen Jesus vor dem Hohen Rat nicht um einen eigentlichen Prozess, sondern um ein eingehendes Verhör handelte, das mit dem Beschluss endete, Jesus dem römischen Statthalter zur Verurteilung zu übergeben.
Sehen wir uns nun die Berichte der Evangelien näher an, immer in der Absicht, die Gestalt Jesu selbst dabei besserkennen und verstehen zu lernen. Wir haben bereits gesehen, dass nach dem Vorfall der Tempelreinigung zwei Anklagen gegen Jesus in der Luft lagen. Die erste betraf das Deutewort der prophetischen Zeichenhandlung des Austreibens von Vieh und Händlern aus dem Tempel, was ein Angriff auf den heiligen Ort selbst zu sein schien und damit auf die Tora, auf der das Leben Israels beruhte.
Ich halte es für wichtig, dass nicht der Akt der Tempelreinigung als solcher Gegenstand der Verhandlungen war, sondern allein das Deutewort, mit dem der Herr seine Gebärde ausgelegt hatte. Daraus darf man schließen, dass der zeichenhafte Akt in Grenzen geblieben war und keine öffentliche Unruhe ausgelöst hatte, die Grund zu rechtlichem Einschreiten geboten hätte. Das Gefährliche war vielmehr die Deutung, der scheinbare Angriff auf den Tempel und der Vollmachtsanspruch Jesu selbst.
Aus der Apostelgeschichte wissen wir, dass dieselbe Anklage gegen Stephanus erhoben wurde, der Jesu Tempelprophetie aufgegriffen hatte, was zu seiner Steinigung führte, also als Gotteslästerung angesehen wurde. Im Prozess Jesu traten Zeugen auf, die das Wort Jesu wiedergeben wollten. Aber es gab keine einheitliche Version: Was Jesus wirklich gesagt hatte, war nicht eindeutig zu klären. Dass daraufhin dieser Anklagepunkt fallengelassen wurde, zeigt, dass man sich um ein rechtlich korrektes Vorgehen mühte.
Aufgrund der Tempelreden Jesu lag eine zweite Anklage in der Luft: dass Jesus einen messianischen Anspruch erhob, durch den er sich irgendwie in Einheit mit Gott selbst setzte und so der Grundlage von Israels Glauben, dem Bekenntnis zu dem einen und einzigen Gott, zu widersprechenschien. Beachten wir, dass beide Anklagen rein theologischer Natur sind. Aber entsprechend der Unmöglichkeit, die religiöse und die politische Ebene voneinander zu trennen, von der wir oben gesprochen haben, eignet ihnen auch eine politische Dimension: Der Tempel als die Opferstätte Israels, zu der das ganze Volk bei den großen Festen pilgert, ist die Grundlage der inneren Einheit Israels. Der messianische Anspruch ist Anspruch auf das Königtum über Israel. So wird denn auch über dem Kreuz das Wort „König der Juden“ als Grund für Jesu Hinrichtung stehen.
Wie die Ereignisse des Jüdischen Krieges zeigen, gab es im Hohen Rat gewiss Kreise, die einer Befreiung Israels mit
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